Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen27. September 2019
Was ist eigentlich sozial?Gefrorene Mieten, eigennützige Politiker und die Tücken der Sprache
Es ist Winter in Berlin. Denn dort – man verzeihe den Kalauer – werden jetzt die Mieten eingefroren. Warum? Weil die rot-rot-grüne Regierung der Hauptstadt der Meinung ist, der Mietzins für Wohnungen sei in den vergangenen Jahren auf eine für die Menschen unzumutbare Höhe angestiegen. Das ist im Übrigen nicht nur die Ansicht des Berliner Senats, sondern auch der Bundesregierung. Die kommt nur nicht gleich mit dem Gefriergerät daher. Stattdessen will sie den Mietspiegel in seiner Struktur neu berechnen. Für die »ortsübliche Vergleichsmiete«, an der sich Vermieter orientieren müssen, sollen fortan nicht mehr nur die vergangenen vier, sondern sechs Jahre herangezogen werden. Weil Wohnen aber vor sechs Jahren billiger waren als vor vier Jahren, ist der Effekt der Maßnahme klar: Mietsteigerungen sollen erschwert oder verhindert werden. Das alles gilt als soziale Maßnahme und wird von vielen Menschen auch so verstanden.
Man muss sich, nur so zum Vergleich, einmal vorstellen, die deutsche Industrie würde unter Anführung sozialer Gründe bei der Bundesregierung durchsetzen, dass die Löhne für ihre Arbeiter künftig nur im Maße der »ortsüblichen Vergleichslöhne« steigen dürfen und als Referenzrahmen dafür jenen Lohn zur Grundlage nehmen, der vor zehn Jahren gezahlt wurde. Das wäre dann eine Art Lohndeckel, der nötig wäre, um für einen Zeitraum von fünf Jahren eine Konjunkturkrise zu meistern. Man sieht sofort: Noch nicht einmal die ausgebufftesten Kapitalisten würden einen solchen Vorschlag wagen, denn es würde sofort ein Aufschrei der Empörung durch das Land gehen. Mieter dürfen soziale Gründe geltend machen, um staatliche Preisregulierungen durchzusetzen. Fabrikanten dürfen das natürlich nicht. Das könnte auch daran liegen, dass Mieter für Politiker wichtiger sind als Fabrikanten, einfach weil es mehr davon gibt.
Mieten müssen abgesenkt werden
Die Grundsatzfrage heißt: Was ist sozial? Oder besser: Wer hat die Macht, soziale Begründungen zur Durchsetzung von Preisvorteilen geltend zu machen? Dazu müssen wir uns das Berliner Modell einmal genauer anschauen. Ich zitiere aus dem Referentenentwurf »Mietendeckel« vom 2. September (nachzulesen auf der Internetseite des Berliner Senats): »Mietenstopp heißt, dass keine höhere als die am 18. Juni 2019 geltende Nettokaltmiete gezahlt werden muss. Auch für Staffel- und Indexmieten gilt, dass die Miete, die am 18.6.2019 gezahlt wurde, eingefroren wird. Wenn eine Wohnung wiedervermietet wird, darf nur die Nettokaltmiete des Vormieters genommen werden.« Die Mietobergrenze schwankt zwischen 3,92 Euro und 9,80 je Quadratmeter, abhängig vom Alter und der Ausstattung (mit oder ohne Sammelheizung und Bad) der Wohnung. Die Lage spielt keine Rolle: Eine Wohnung am Kudamm oder am Prenzlauer Berg wird nicht anders behandelt als eine Wohnung in Marzahn.
Es kommt noch radikaler: »Eine Miete kann abgesenkt werden, wenn sie die Mietobergrenze überschreitet, wenn der betroffene Haushalt mehr als 30 Prozent seines Gesamteinkommens für die Miete aufbringen muss und wenn kein Härtefall für Vermieterinnen vorliegt.« Machen wir ein Beispiel: Zahlt ein Single mit einem Einkommen von 2600 Euro für eine Altbau-Wohnung von 65 Quadratmetern eine monatliche Miete von 780 Euro, kann er eine Absenkung der Miete um 360 Euro auf 419 Euro durchsetzen. Mithin würde er mithilfe des Berliner Senats seine monatliche Mietbelastung annährend halbieren. Der Regierende Bürgermeister von Berlin sagt zwar, dass ihm so eine Absenkung der Miete nicht gefalle. Aber auf der offiziellen Seite seines Senats findet sich der Passus bis heute.
Dass durch das Einfrieren von Mieten keine neuen Wohnungen entstehen, hat sich inzwischen herumgesprochen. Mehr noch: Je rigider staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt ausfallen, um so knapper wird das Angebot an Wohnungen. Das alles ist schwer zu widerlegen und zeigt den ökonomischen Unsinn eingefrorener Mieten. Indes lässt sich natürlich gleichwohl sagen, dass ein Mietendeckel »sozial« ist, auch wenn er die Wohnungsnot allgemein nicht lindert. Denn immerhin bringt er allen Mietern, die jetzt in einer Mietwohnung leben, die amtliche Gewissheit, dass ihre Mieten fünf Jahre lang nicht steigen werden. »Sozial«, so ließe sich definieren, ist, wenn es weniger teuer wird als von den Betroffenen befürchtet. Begründungen dafür (»Wohnen ist ein Menschenrecht« etcetera) lassen sich beliebig finden.
Und wer denkt an die Vermieter?
Es fällt freilich auf, dass ein Anrecht auf soziale Hilfe vom Staat offenbar nur eine Seite genießt: die Mieter. Was aber ist mit den Vermietern, die wir uns einen Moment lang und ziemlich realistisch nicht nur als steinreiche Miet-Haie oder renditegierige Immobilienunternehmen vorstellen wollen, sondern als ganz normale Leute, die in ihrem persönlichen Portfolio zur Alterssicherung in Zeiten von Null- oder Negativzinsen eben auch eine oder gar drei Wohnungen halten. Sie erwarten in aller Vorsicht eine niedrige reale Verzinsung ihrer Immobilien, was bedeutet, dass die Mieten moderat (mindestens im Tempo der Inflation steigen) müssen. Natürlich rechnen sie mit den Volatilitäten des Marktes. Womit sie nicht rechnen konnten – und auch nicht mussten – ist, dass ihnen ihre bescheidene Renditeerwartung durch staatlichen Eingriff nun fünf Jahre lang verwehrt werden soll. Ihnen wird durch den Mietdeckel Geld genommen und zwar selbst dann, wenn sie nicht gezwungen werden, ihre Mieten auch noch abzusenken. Das kann man als einen staatlich verordneten finanziellen Verlust, eine Art von Enteignung, bezeichnen, den sie hinnehmen müssen, sollte der Plan Berlins Gesetz werden und verfassungsrechtlich Bestand haben. Zwar spricht der Mietdeckel von »Härtefällen«, die aber nur für die Mietsenkung geltend gemacht werden können und die als »dauerhafte Verluste« und »Substanzgefährdung der Mietsache« definiert werden. Daraus lässt sich schließen, dass die zuständigen Härtefall-Prüfstellen das »ganz normale« Abschmelzen der erwarteten Alterssicherung, den das Einfrieren der Mieten zur Folge hat, nicht als Härtefall durchgehen lassen wird.
Merke: Mieten einfrieren lässt Renditen schmelzen, was weder physikalisch noch logisch gut gehen kann. Finanzielle Wohltaten für Mieter – fünf Jahre lang keine Mieterhöhung – gelten als sozial. Finanzielle Zumutungen für Vermieter (sozioökonomisch handelt es sich um dieselbe Gruppe) – fünf Jahre lang Verluste bei ihrer privaten Altersrente – gelten nicht als unsozial. Da stimmt etwas nicht.
Fazit: Sozial ist ein Wort, das nur mit äußerster Vorsicht verwendet werden sollte. Denn man kann es nutzen, wie man es gerade braucht. Erst recht, wenn Politiker es verwenden, ist der Sache nicht zu trauen: Der Job von Politikern ist es nicht, Gutes zu tun, sondern Wähler zu gewinnen. In diesem Interesse setzten sie den Begriff »sozial« ein. Der Philosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek nannte »sozial« ein Wieselwort. Dem Wiesel wird nachgesagt, dass er aus einem Ei allen Inhalt heraussaugt, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt. Wiesel-Wörter sind Wörter ohne Inhalt. Deshalb eben eignen sie sich besonders gut zum polit-strategischen Gebrauch.
Rainer Hank