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  • 23. März 2020
    Warum klappt der Bildung-Aufstieg nicht?

    Woher kommt die Motivation zum Lernen?

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Scham und Verrat in der Familie

    Viele Vorbilder, insbesondere Sportler und Musiker, suggerieren, es sei das vollkommende irdische Glück, so zu werden wie Lukas Podolski, Mesut Özil oder Bushido – nach dem Motto »vom Gettokid zum Gangsta-Rappa«. Dieses Glücksmodell legt nahe, man könne reich und berühmt werden, aber gleichzeitig Sprache, Auftreten und Habitus beibehalten. Es ist die Hoffnung, alles schaffen zu können, ohne etwas ändern zu müssen.

    Kommt also daher der Ansporn zum sozialen Aufstieg? Kaum. Der Weg vom Gettokid zum Gangsta-Rappa ist ein Märchen, klingt schön, kommt selten vor und hat nichts zu tun mit dem typischen Klassenaufstieg von unten nach oben. Das ist die These des neuen Buches »Mythos Bildung« des Soziologen Aladin El-Mafaalani: Erfolgreiche Bildungsaufsteiger haben an irgendeinem Punkt ihrer Biographie das eigene Denken und Handeln problematisiert und aus sich selbst den Wunsch entwickelt, etwas in ihrem Leben zu verändern. Es geht ihnen in der Regel nicht um Geld und Macht, ja nicht einmal um sozialen Aufstieg. Halbwüchsige sind ja auch keine kleinen Soziologen, die über soziale Mobilität nachdenken, sondern, wenn es gut geht, Jugendliche, die Spaß und Neugier am Lernen entwickeln und erfahren haben, dass sich ihnen dadurch neue Welten eröffnen.

    Bildungsaufsteiger sind wie Migranten

    Wo es kein Aufstiegsmotiv gibt, da kann es auch keinen Aufstiegsplan geben. Aufsteiger erklimmen jeweils nur die nächste Sprosse der Leiter. Der Weg ist unsicher und wird von Ängsten begleitet. El-Mafaalanis eigene Biografie liest sich wie der Beweis für seine These: Als Kind syrischer Eltern in Deutschland geboren, hat er zunächst sechs Jahre lang als Lehrer im Schuldienst gearbeitet. Zudem war er Mitarbeiter im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium. Heute ist El-Mafaalani Professor für »Erziehungswissenschaft und Bildung in der Migrationsgesellschaft« an der Universität Osnabrück. Sein Buch »Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt« (2018) wurde rasch zum Bestseller: Konflikte entstehen nicht, weil die Integration von Migranten und Minderheiten fehlschlägt, sondern – ganz im Gegenteil – weil sie zunehmend gelingt. »Gesellschaftliches Zusammenwachsen erzeugt Kontroversen und populistische Abwehrreaktionen – in Deutschland und weltweit«, behauptet El Mafalaani.

    Dass Integration in ein neues soziales Milieu psychische Kosten verursacht, ist die Erfahrung aller Bildungsaufsteiger. Sie sind eben auch eine Art von Migranten. Bildungsmigration braucht den Willen zur Veränderung und hat ihren Preis: Aufsteiger machen die Erfahrung von Trennung, Entfremdung, Scham und Schuld aus dem Herkunftsmilieu und brauchen die Fähigkeit zu Flexibilität und Anpassung an neue Umgebungen, die ihnen gleichwohl die erhoffte Zugehörigkeit nicht leicht machen. Man sitzt zwischen allen Stühlen.

    Besser als Soziologen es können wird diese Erfahrung von der französischen Autorin Anni Ernaux beschrieben, deren Bücher gerade neu bei Suhrkamp ins Deutsche übersetzt werden. Ihre Erzählung: Der Vater stirbt, was der Erzählerin Anlass wird, dessen Leben aufzuschreiben. Geburt um die Jahrhundertwende, kurzer Schulbesuch, Bauer, dann bis zum Todesjahr 1967 Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie. Sein Leben ist die Geschichte von gesellschaftlichem Aufstieg und der Angst, wieder nach unten abzurutschen. Dass die Tochter eine höhere Schule besucht, macht den Vater stolz, aber zugleich entfernen sie sich voneinander. Für die Autorin wird die Erzählung zu einer Geschichte des Verrats: an ihren Eltern und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist, gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.

    Annie Ernaux berichtet von der stetigen Angst, fehl am Platz zu sein. Die Frage, die einen verfolgt, lautet: »Was werden die Leute dazu sagen?« Das Schlimme ist, dass genau diese Frage den Gebildeten und Erfahrenen als spießig und typisch kleinbürgerlich erscheint. Für alle Aufstiegskinder ist sie aber Kompass und zugleich Ausweis der Tatsache, nicht dazuzugehören. Denn dann wäre man ja souverän, bräuchte nach der Meinung der Leute gar nicht zu fragen. Für ein Fest der Schule weist die Direktorin an, zu diesem Anlass »sollte die Tochter Abendgarderobe tragen«. Mutter und Tochter hatten keine Ahnung, was sie wohl damit gemeint haben könnte. Das ist schrecklich, zugleich bringt es aber noch einmal eine Nähe zwischen den beiden Frauen. Schlimm sei, »die Scham, nicht zu wissen, was wir zwangsläufig gewusst hätten, was wir waren, nämlich unterlegen.«

    »Soziale Paten« können helfen

    Ich vermute, dass das Wissen um genau solche Scham-Kosten des Aufstiegs verantwortlich ist für die hartnäckig sich haltenden Bildungsungleichheiten. Zwar hat die Einkommensmobilität hierzulande zuletzt wieder Tempo gewonnen, wie Patrick Bernau vergangene Woche in der F.A.S. berichtete. Doch Einkommens- und Bildungsmobilität sind zwei Paar Stiefel: Von hundert Akademikerkindern nehmen in Deutschland 74 ein Hochschulstudium auf. Bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien sind es gerade einmal 21. Bildungsexpansion einerseits – also die seit dem Bildungsreformer Georg Picht in den sechziger Jahren ausgerufene Massenbewegung zum Besuch von höheren Schulen und Universitäten – und verfestigte Bildungsungleicheit andererseits hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht: Wenn ein Kind aus unteren Schichten eine Gymnasialempfehlung erhält, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es die Eltern auch wirklich an einem Gymnasium anmelden, weniger als 40 Prozent, in den ärmsten Familien sogar gerade 20 Prozent. In den mittleren sozialen Milieus sind es 40 bis 80 Prozent, in den oberen Schichten gar 90 bis hundert Prozent. Bekommt ein Kind keine Gymnasialempfehlung, so ist die Reaktion darauf ebenfalls vom sozialen Milieu abhängig: Eltern aus unteren Schichten schicken das Kind nicht aufs Gymnasium, in den reichen und gebildeten Familien landen am Ende trotz der fehlenden Empfehlung rund 60 Prozent auf der höheren Schule.

    Eine liberale Gesellschaft ist auf Chancengleichheit gebaut. Dass über lange Jahrzehnte die Wahrscheinlichkeit des Bildungsaufstiegs für Kinder aus unteren Schichten deutlich schlechter ausfällt als in der Mittel- und Oberschicht, ist eine Ungleichheit, die einem nicht gerecht vorkommt. Was kann man tun? Am Geld kann es nicht liegen – seit Jahren werden immer mehr Finanzmittel in das Bildungssystem gepumpt. Viele Bildungsforscher plädieren für ein besser integriertes Schulsystem und für spätere Trennung zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten. Über diese Frage wird seit Jahren ein erbitterter Glaubenskrieg geführt.
    Aladin-El Mafaalani bringt »soziale Paten« ins Spiel: Sie sind eine Art Mentoren, die unterstützend und korrigierend an die Stelle der Eltern treten. Früher übernahmen Pfarrer diese Aufgabe. Heute können es die Eltern oder Großeltern der Freundin sein, die einem anderen Milieu angehören. Solche Paten bringen konkrete Einblicke in die neue soziale Welt und senken die Kosten des Wechsels. Lehrer oder andere pädagogische Fachkräfte taugen als soziale Paten eher weniger, findet El-Mafaalani. Das ist ein bisschen enttäuschend.

    Rainer Hank