Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. August 2021
Warum gibt es Hungersnöte?2 Bilder ›
Amartya Sen hat eine überraschende Erklärung
Shantiniketan ist ein kleines Städtchen im indischen Bundesstaat Westbengalen. Der Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore gab dem Ort seinen Namen. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Heimstatt des Friedens«. Tagore gründete hier 1901 die Visva-Bharati Universität. Die Vorlesungen und Seminare wurden unter hohen Mango-Bäumen im Freien abgehalten. Hier studierte in den vierziger Jahren der spätere Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen. In Shantiniketan war er geboren. Dort wuchs er bei seinen Großeltern auf, beide große Bewunderer von Tagore. Noch bevor der Junge Englisch sprach, lernte er Sanskrit.
Die ländliche Idylle Shantiniketans wurde im Frühjahr 1943 abrupt gestört. Vom Hunger gezeichnete Menschen tauchten auf, erbettelten sich etwas zu essen und zogen weiter nach Kalkutta, wo sie auf Erlösung aus ihrem Elend hofften. Vergeblich. Was Sen als Zehnjähriger zu sehen bekam, war der Beginn der sogenannten »Großen Bengalischen Hungersnot«, der größten Katastrophe Britisch-Indiens. Zwischen zwei und drei Millionen Menschen, genau weiß man es nicht, fielen ihr zum Opfer.
Die frühe Erfahrung ließ Sen sein Leben nicht mehr los. Mit Forschungen über die Ursachen von Hungernöten, die er dreißig Jahre später anstellte, sollte er berühmt werden. Alle denken, dass Menschen hungern, weil sie nichts zu essen haben. Sen bestreitet das. Ich habe Sens dieser Tage erschienene, für das Genre untypisch ungeschwätzige Autobiographie »Home in the world« (Zuhause in der Welt) gelesen: Der Titel ist eine weitere Verneigung vor Tagore und bezieht sich auf die Spannungen zwischen westlichem und östlichem Denken und der Möglichkeit ihrer Versöhnung. Nichts bringt den heute 87 Jahre alten Sen so auf die Palme wie Samuel Huntingtons These eines dauerhaften Clashs der Kulturen. Das multikulturelle Bengalen seiner Kindheit und die Lehren Tagores bargen für Sen die Erfahrung eines spannungsreichen, jedoch versöhnlichen Zusammenlebens der Kulturen. Die Verehrung für Tagore hält bis heute an. Auch seinen Vornamen verdankt er dem Dichter: Amartya bedeutet auf Bengalisch »unsterblich« oder »himmlisch«.
Zurück zur Großen Hungersnot. Seit 1942 hatten die Preise für Lebensmittel in Bengalen angezogen. Warum das so war, blieb zunächst unklar. Die das Land regierenden Briten ignorierten die humanitäre Katastrophe, weil sie die Auffassung vertraten, es gäbe ausreichend zu essen und zu trinken. Damit lagen sie nicht falsch. Aber, so Sen, sie hatten die falsche Theorie, die ihre Ignoranz rechtfertigte und den Bengalen zum Verhängnis wurde. Blickte man lediglich auf das Angebot, so gab es keinen Mangel an Lebensmitteln. Es kam sogar mehr Ware auf den Markt.
Indien im Zweiten Weltkrieg
Doch was war mit der Nachfrage? Da gab es einen Boom. Wie kann es sein, dass es in einer boomenden Wirtschaft zugleich zu einer schrecklichen Hungersnot kommt? Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg in Ostasien. Japanische Truppen standen an den Grenzen zu Indien. Hinzu kamen anti-britische indische Soldaten, später dann auch die Amerikaner. Überall wurde aufgerüstet, wofür Menschen gebraucht wurden, die viel essen mussten. Und das Geld dazu vom Staat bekamen. Es war ein Nachfrage-Schock, der die Preise nach oben schnellen ließ. Es gab Panikkäufe. Später kamen Spekulanten dazu, die aus der Not ihren Reibach machten.
So nahm das Unglück seinen Lauf. Um sicherzustellen, dass die Menschen in Kalkutta zu essen hatten, rationierte die Regierung in der Großstadt die Waren, die von ihr in den ländlichen Gegenden Bengalens zu nahezu jedem Preis aufgekauft wurden. Während die städtische Bevölkerung zu essen hatte und die auf dem Land lebenden oberen Schichten – zu denen Sens Familie zählte – ebenfalls, konnte es sich die arme Landbevölkerung nicht mehr leisten, Nahrungsmittel zu kaufen. Sie degenerierten moralisch und verhungerten elendiglich. Hunger, so Sen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Klasse.
Hunger, trotz eines großen Angebots an Essen – so erklärt sich die Paradoxie. Hunger heißt nicht, dass es nichts zu essen gibt. Hunger heißt, dass die Armen kein Geld haben, sich etwas Essbares zu kaufen. Bei seinen Studien in den siebziger Jahren stellte Sen fest, dass dies generell für Hungersnöte gilt. Es geht um Rechte und Ansprüche (»entitlement«), nicht um Verfügbarkeit (»availability«) von Nahrung. Daraus leitet Sen seine These ab, Hunger sei kein ökonomisches, sondern ein politisches Problem. Auch das konnte er 1943 beobachten und mit seinen debattierfreudigen Onkeln, Tanten und Großeltern besprechen. Die englischsprachigen Zeitungen Indiens berichteten nicht über die Nahrungskatastrophe aus einer falsch verstandenen Solidarität mit den gegen die Nazis Krieg führenden Briten, denen man nicht in den Rücken fallen wollte. Das Parlament in London nahm von der Hungersnot lange keine Kenntnis. Der britische Premier Winston Churchill ignorierte, als sie ihn dann erreichten, alle Hilferufe zynisch und kaltherzig.
Biographien von Wissenschaftlern sind in der Regel ziemlich langweilig. Die Abenteuer von Geistesarbeitern spielen sich im Kopf ab. Äußerlich passiert da wenig. Sie sitzen am Schreibtisch, in der Bibliothek, im Labor, schreiben Papers und Bücher, diskutieren mit ihresgleichen auf Kongressen, unterrichten im Seminar und im Hörsaal.Geht die Farbei beim heiß Baden ab?
Sens Forschungen laufen anders, sie haben einen konkreten Sitz in seinem Leben. Seine Autobiographie ist, so gesehen, eine akademische Ausnahme. Weil sein Leben eine Ausnahme ist. Ständig ist er in der Welt unterwegs, in den frühen Jahren häufig auf dem Schiff. Sein Weg führt von Shantiniketan nach Kalkutta, von dort nach Cambridge in England, dann an das MIT in Boston und wieder zurück nach Delhi. Besonders aufregend muss es in den fünfziger Jahren in Cambridge gewesen sein. Eine intellektuell offene Atmosphäre, wo Keynesianer mit Liberalen (wie dem Entwicklungsökonomen Peter Bauer) und Marxisten um das beste Argument stritten und sich nicht – wie heute – in ihre Echokammern zurückzogen. Sens akademischer Held ist der heute nur noch von Fachleuten hoch geachtete Piero Sraffa. Seine Heldin im Leben ist Mrs. Hanger, seine Zimmerwirtin in Cambridge, die wohl noch nie einen Mann aus Indien gesehen hatte: Besorgt wollte sie wissen, ob wohl seine Farbe beim heiß Baden abgehen könnte. Sen nahm ihr die Frage nicht übel. Und Mrs. Hanger war alsbald tief überzeugt, dass alle Menschen gleich sind.
Sens Fragen sind seit der Kindheit dieselben: Wie vermeiden wir Armut und Hunger? Und was lässt sich tun gegen die Erfahrung von Ungleichheit, die nicht allein in einer ungerechten Einkommensverteilung gründet, sondern sich auch auf die Frage bezieht, welche Ressourcen Menschen brauchen, um unabhängig von Rasse und Klasse befähigt zu werden, ein autonomes Leben zu führen. Immer geht es um Gerechtigkeit. Es ist eine zutiefst humane ökonomische Theorie. Sollte jemand noch nach Ferienlektüre suchen: »Home in the World« wäre eine gute Wahl.
Rainer Hank