Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen21. September 2020
Vom »kranken Mann« zum VorbildSind wir Deutschen jetzt erwachsen? Ein Brite behauptet das
Manchmal braucht es den Blick von außen: »Deutschland ist ein beneidenswertes Land. Es hat eine Reife entwickelt, mit der nur wenige andere Länder mithalten können.« Welche andere Nation hätte einen armen Cousin wie die DDR mit so wenig nachhaltigem Trauma aufnehmen können? Welche andere Nation hätte über einer Million der ärmsten Menschen der Welt in der Flüchtlingskrise eine Heimat geben können?
Solche und noch viele mehr die Deutschen lobenden Sätze finden sich in einem Buch des englischen Publizisten John Kampfner, das gerade erschienen ist und den provozierenden Titel trägt »Warum die Deutschen es besser machen.«
Man kann den Titel in zwei Richtungen lesen: Natürlich richtet sich das Buch zunächst an die britischen Leser, denen der Autor Deutschland als Vorbild vorsetzt. Wie muss es um den kollektiven Gemütszustand Großbritanniens bestellts sein, dass seine Bürger sich jetzt solche Überschriften und ausgerechnet ein Lob der »Krauts« gefallen lassen müssen? Als Deutscher liest man das Buch vor allem als Außenansicht, welche mit distanziertem Blick keine Rücksicht auf unsere eigenen in langen Jahren eingespielten Traumata, Nörgeleien und Selbstkasteiungen nehmen muss. Aber natürlich auch mit der skeptischen Haltung: Nun macht mal halb lang!
Angela Merkel als Vorbild
Wir erinnern uns noch: Der Tiefpunkt war vor gut zwanzig Jahren erreicht. Damals, im Sommer 1999, taufte das britische Magazin »Economist« Deutschland als den »kranken Mann Europas«, oder, nicht minder abwertend gemeint, als »das Japan Europas«. Es deutet sich schon seit einer Weile an, dass die Schulnoten aus dem Ausland stetig besser werden: Jetzt also gibt es eine »Eins plus«. Die Bewältigung der Corona-Krise ist dafür lediglich der eindrucksvolle Schlusspunkt: Deutschland hat in der Pandemie bislang knapp 10 000 Tote zu betrauern, in Großbritannien sind es mehr als 40 000. Auch der wirtschaftliche Schaden, den das Virus anrichtet, ist hierzulande viel glimpflicher als auf der britischen Insel. »Corona war der ultimative Test für die Führungsqualität Angela Merkels«, schreibt Kampfner.
John Kampfner ist der Sohn eines von Hitler aus Bratislava geflohenen Juden und einer englischen Protestantin (»solide christliche Arbeiterklasse«). Er studierte in Oxford Geschichte und Russisch, war Auslandskorrespondent renommierter Zeitungen in Moskau, Bonn und im Berlin der Wendezeit. Für sein Deutschlandbuch ist er ein Jahr durch unser Land gereist, hat sich umgehört, nicht nur am Prenzlauer Berg in Berlin, sondern auch zum Beispiel in Mönchengladbach (»das deutsche Manchester«: Textilindustrie und Fußball) oder bei Porsche in Stuttgart-Feuerbach. Und er hat viel gelesen, Bücher des deutschen Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser zum Beispiel, oder aber auch die amerikanische Philosophin Susan Neiman: »Von den Deutschen lernen«, ein Buch, das in dieselbe Lobeskerbe haut und preist, wie ernsthaft die Deutschen sich mit ihrer verbrecherischen Geschichte auseinandergesetzt haben.Was ist es denn nun, was dem britischen Beobachter so gut an uns gefällt? Es sind die unaufgeregten Tugenden der Deutschen, vor allem die Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, in denen er die Grundlage für den Erfolg erkennt. Und es ist die anti-charismatische Kanzlerin, eine Gegenfigur zum derzeitigen britischen Premierminister, die diese Tugenden in größter Selbstverständlichkeit verkörpert. Tatsächlich gelingt es Kampfner, aus dieser Tugendlehre das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft abzuleiten. Der berühmte »Mittelstand« mit seiner Verwurzelung in der Provinz (die Milliardäre Reinhold Würth in Künzelsau oder Ralph Dommermuth in Montabaur), das sind für Kampfner Vorbilder im Unterschied zu den Brutalo-Kapitalisten, die er aus den Romanen von Charles Dickens kennt.
Das Motto der sozialen Marktwirtschaft heißt für Kampfner: Langsam, aber sicher. Es ist ein wirtschaftspolitisches Programm der kollektiven Entschleunigung, ein bisschen langweilig, auch nicht besonders innovativ, aber am Ende erfolgreicher als eine Ökonomie angeberischer Heißspunde. Da kommt der Brite dann mit ganz wenig Ironie aus, wenn er schwärmt von der deutschen Vereinskultur, der freiwilligen Feuerwehr, der Spargelzeit, der Kehrwoche und dem rheinischen Karneval. Das sind ihm die Garanten des sozialen Zusammenhalts.Ist das nicht doch alles ein bisschen einseitig, geschuldet dem aktuellen britischen Brexit-Katzenjammer? Gewiss, Kampfner, bietet nicht nur Lobhudelei. Er erwähnt Martin Winterkorn und den VW-Skandal. Er moniert den digitalen Rückstand Deutschlands und die marode Infrastruktur (die berühmten Schultoiletten), kritisiert die starke Exportabhängigkeit, die wacklige Haltung gegenüber Russland (Nordstream II). Und er findet es beschämend, dass dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, kein Ostdeutscher an der Spitze eines Dax-30–Unternehmens oder einer deutschen Universität steht.
Wonder über Wonders
Aber die dominante Melodie des Buches ist ein Preisgesang: Am Ende des Kapitels über die »Wonders«, die deutschen Wirtschaftswunder, wird es sogar richtig hymnisch: Deutschland sei bis heute erfolgreich mit seinem Mix aus wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Inklusion. Das Land zeige, dass sich Wohlstand auch schaffen lasse ohne Thatcheristische Exzesse. Früh habe das Land realisiert, dass man nur erfolgreich sein könne, wenn regionale Ungleicheiten versöhnt würden (Länderfinanzausgleich).
Insbesondere die letzten zwölf Jahre seit der Finanzkrise werden für Kampfner zu einer Triumphgeschichte: die längste zusammenhängende Wachstumsgeschichte, die höchste Beschäftigungsquote jemals, Schuldenabbau, ausgeglichene Haushalte und ständig üppigere öffentliche Budgets. Das alles sei der Erfolgsbeweis für Deutschlands langfristigen ökonomischen Atem, die Tradition der Tüftler von den Technischen Universitäten, das duale System der Berufsausbildung. Da zeige sich, dass Deutschland auch mit »Disruption« und Veränderung umgehen könne. Jegliche »Schadenfreude«, so Kampfners Lehnwort, verbiete sich.
Schon gut. Genau in dieser Einseitigkeit liegt der Reiz der Lektüre für deutsche Leser. Aber man wird schon darauf hinweisen dürfen, dass wir nun nicht alles besser machen und besser können. Die Schwäche der deutschen Banken und der Finanzindustrie kommt nur am Rande vor; der deutsche Arbeitsmarkt ist immer noch überreguliert. Und was der Überehrgeiz der Klima- und Energiepolitik als Schaden für die deutsche Industrie bewirkt, ist noch offen.
Wer nüchterne Korrekturen zum schmeichlerischen Lob sucht, ist mit dem neuesten breit gefassten Index zur wirtschaftlichen Freiheit gut bedient, der vergangene Woche vom amerikanischen Fraser-Instituts veröffentlicht wurde. Da rangiert Deutschland auf Platz 21, Großbritannien aber auf Rang 13. Die Spitzenplätze nehmen Hongkong, Singapur, Neuseeland und die Schweiz ein. Ein Buch »Why the Swiss do it better«, hätte also ebenfalls seine Berechtigung. Jedenfalls ist noch nicht ausgemacht, wo die protektionistische Altmaier-Mode am Ende hinführt, nationale Champions mit dauerhafter Staatsbeteiligung zu schaffen. Es wäre jedenfalls schade, wenn der Zyklus der Deutschland-Bücher in dreißig Jahren wieder beim »kranken Mann« landen würde.
Rainer Hank