Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen02. Oktober 2019
VolksverhexerWarum sich Populisten und Demokraten vertragen
Wohin treibt die Demokratie? Ganz offenkundig bietet sie keinen Schutz gegen den Populismus. Im Gegenteil: Die Stimmen der Mehrheit werden zum willfährigen Instrument der Manipulation im Interesse populistischer Führergestalten. Während die Eliten seit Jahren analysieren, warum der Populismus schädlich ist, zeigt das Volk sich von den Argumenten der Eliten-Intelligenz unbeeindruckt und bleibt loyal zu den populistischen Führern, die durch sie an die Macht gekommen sind.
Warum begeben sich Wähler freiwillig in die Knechtschaft von Volks-Tribunen? Warum imprägnieren sie sich gegen die Argumente der Eliten? Ja, mehr noch, warum richtet sich ihre Wut eher gegen die Eliten, von denen sie sich unterdrück fühlen, als gegen ihre Herrscher, die in Wirklichkeit nicht ihr Bestes wollen? Per Zufall fiel mir kürzlich ein kleines Büchlein in die Hand, das den kühnen Titel trägt »Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft«. Veröffentlicht wurde es im Jahr 1574 von einem Mann aus dem Südwesten Frankreichs namens Etienne de la Boétie. Dazu später mehr.
Monopolisten der Macht – demokratisch gewählt
Zunächst zur aktuellen polit-ökonomischen Situation: Seit geraumem lässt sich in vielen Ländern eine Monopolisierung der Macht beobachten durch einen Führer an der Spitze und unter Rückgriff auf frühere autoritäre Traditionen der Staatsführung. In Wladimir Putin lebt die zaristische Tradition, in Recep Erdogan das Sultanat wieder auf. Donald Trump will America First, Boris Johnson will das britische Imperium zurück haben. Es handelt sich allemal um Männer an der Staatsspitze (nehmen wir Victor Orban oder Jaroslav Kaczynski hinzu), die sich offen zur Lust an der Macht bekennen und darin ganz offensichtlich nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Untergebenen gefallen. Erdogan, Orban & Co. verwandeln offene Demokratien in protektionistische Autokratien. Sie beschneiden Freiheiten und verhindern Wettbewerb. Oder anders gesagt: Trump & Co. wollen ihr Land wie eine Firma führen: autoritär als CEO.
Alle diese Männer sind demokratisch an die Macht gekommen. Ohne die Loyalität ihrer Völker wären sie nichts. Mehr noch: Diese populistischen Führer nutzen die ihnen demokratisch verliehene Macht zum Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit. Sie verändern die »Balance of Power« zu ihren Gunsten: Judikative, Medien, Wissenschaft oder Wirtschaft müssen das Machtmonopol des Anführers akzeptieren oder es geht ihnen an den Kragen. All das vollzieht sich schleichend, innerhalb der bestehenden Systeme, ohne dass ein Putsch oder gar eine Revolution nötig wären. Systemveränderung verläuft systemimmanent.
Anschaulich machen lässt sich der Prozess der Monopolisierung der Macht besonders gut an Victor Orban in Ungarn. Das geltende Wahlsystem dort hat es möglich gemacht, dass seine Fidesz-Partei mit nur 53 Prozent der Wählerstimmen zwei Drittel der Sitze im Parlament innehat. Mit dieser starken Verankerung der Macht in der Legislative gelang es Orban, trickreich, die Rechtsinstitutionen des Landes zu verändern: Dazu mussten keine unliebsamen Richter entmachtet oder Gerichtshöfe neu geschaffen werden. Es genügte schon, die Zahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf fünfzehn zu erhöhen und die vier neuen Stellen mit Fidesz-Leuten zu besetzten. Auf ähnliche Weise werden Medien gleichgeschaltet, Universitäten und Wissenschaftsinstitutionen aus dem Land vertrieben. Aber das Volk bleibt bei der Stange.
Ungarn ist nur ein Beispiel für den zentralisierenden Mechanismus populistischer Machtentfaltung. Es braucht dafür kein Einparteiensystem, wie die Vereinigten Staaten zeigen. Es funktioniert in alten Demokratien (Amerika) genauso wie in jungen Demokratien (Türkei, Russland). Allerdings entfalten die rechtsstaatlichen Institutionen in den alten Demokratien eine größere Resilienz: Den High Court anzutasten wagt der Brite Boris Johnson – bislang – nicht. Schmollend unterwirft er sich dem Spruch. Der Versuch, mit der öffentlichen Meinung gegen das Parlament zu regieren, ist vorerst gescheitert.
Warum begibt man sich freiwillig in Knechtschaft?
Das alles führt direkt zu Etienne de la Boétie, den Autor des späten 16. Jahrhunderts. Wir kennen ihn vor allem durch den französischen Moralisten Michel de Montaigne, der von Boéties Abhandlung über die »freiwillige Knechtschaft« so begeistert war, dass er beschloss, den Verfasser kennen lernen zu wollen. Daraus ergab sich eine innige Freundschaft bis zum frühen Tod Boéties. Lange wurde spekuliert, ob die »Abhandlung« in Wirklichkeit womöglich von Montaigne selbst stammt. Inzwischen wird diese Hypothese seriös nicht mehr vertreten. De la Boétie. der kühne Autor, schrieb den Essay als Sechzehnjähriger.
»Das Volk selbst schlägt sich in Fesseln, schneidet sich die Kehle ab, gibt die Freiheit für das Joch dahin«, heißt es bei de la Boétie. Wie verhext muss das Volk sein, das es den Tyrannen sogar noch bewundert, wenn er nicht mehr lebt: Neros Tod wurde vom Volk betrauert. Als Stalin starb, flossen Tränen. Das alles ist unfassbar, weil die Freiheit doch eigentlich das natürlichste und höchste Gut sein müsste, etwas, was niemand ohne Zwang gegen eine Selbstversklavung eintauschen würde, findet de la Boétie. Woher kommt das »Gift der Knechtschaft«. Demokratische Herrscher, schreibt de la Boétie, seien nicht besser als gewaltsame Usurpatoren oder erbrechtlich abgesicherte Monarchen. Alle erliegen sie dem »Reiz der Größe«, wollen die Macht, einmal errungen, nicht mehr abgeben. Auch der demokratische Herrscher trachtet danach, die Macht, die ihm vom Volk verliehen wurde, anschließende gegen dieses zu wenden.
Doch die »Lockpfeife der Knechtschaft« – Boétie hat lauter solch schöne Formulierungen – ist eben nicht die Gewalt, sondern die Verführung: Es ist sogar eine besonders geschickte Verführung, mit der es dem demokratischen Herrscher gelingt, sich die Abhängigkeit, ja Liebe seiner Untertanen zu sichern, wofür sie sogar bereit sind, ihre Freiheit zu opfern. Mittel der Verführung sind »Spiele und Possen«, vor allem aber vom Herrscher verteilte materielle Wohltaten: »und so betrogen sie den Pöbel, dessen Herr immer der Bauch ist«. In heutiger Übersetzung könnte man vielleicht sagen: Es ist der Wohlfahrtsstaat, der den Populisten entgegenkommt, wenn sie sich ihre Macht sichern wollen. Sie teilen »Korn, Wein und Geld« aus, schreibt Boétie – und erkaufen sich damit die Wiederwahl.
In all dem zeigt sich die erstaunliche Modernität des französischen Autors. Die Konsequenz ist beunruhigend: Der Populismus ist kein Betriebsunfall der Demokratie, sondern mit ihrem Wesen bestens vereinbar. Demokratischer Populismus ist der größte Feind der Rechtsstaatlichkeit, gerade weil er sich für den Umsturz keiner gewaltsamen Putschisten bedienen muss.Demokratischen Populismus wird man nur ganz schwer wieder los. Etienne de la Boétie indes ist am Ende kein Fatalist. Er glaubt nicht, dass die Menschen dauerhaft dazu bereit sind, sich ihre Freiheitsrechte gegen »Brot und Spiele« abkaufen zu lassen. Sein Freiheits-Imperativ lautet: Hört auf, den Populisten zu gehorchen. Kassiert eure freiwillig gegebene Einwilligung, Sklave der Volkstribunen zu sein. »Stillschweigende Verweigerung«, war die Wendung de la Boéties. Im 20. Jahrhundert hätte man das »zivilen Ungehorsam« genannt.
Rainer Hank