Rainer Hank als Illustration

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  • 21. April 2022
    Über die Menschenfresser

    Barbarei: Ukraine 2022 Foto Mikhail Volkov/unsplash

    Gibt es einen Fortschritt im moralischen Bewusstsein?

    Dass es einen Fortschritt gibt in der Geschichte, dies würde ich (fast) immer vehement verteidigen. Wir leben nicht nur länger als unsere Vorfahren. Wir leben auch besser und gesünder. Früher waren die meisten Menschen arm und nur wenige waren reich. Inzwischen geht es den meisten Menschen der Welt ordentlich – gemessen am Armutsbegriff der Weltbank: Arm ist, wer weniger als 1,90 Dollar am Tag zur Verfügung hat (bezogen auf die Kaufkraft im jeweiligen Land). Seit 1999 hat sich weltweit die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um eine Milliarde verringert.

    Geht der wirtschaftliche, mit großen Freiheitsgewinnen verbundene Fortschritt einher mit einem Fortschritt der zivilisatorischen Verbesserung der Menschheit und ihres moralischen Verhaltens? War die Weltgeschichte also zu etwas nütze? Drei Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Erfahrung gemacht, dass wir dauerhaft in einer friedlichen Welt leben und »klassische« Kriege, bei denen ein Land ein anderes Land überfällt, der Vergangenheit angehören. Gelänge es uns dann noch, den Terrorismus auszurotten, wären wir wirklich in der – subjektiv – besten aller Welten angekommen.

    Seit dem 24. Februar 2022 sind wir skeptisch geworden gegenüber der Behauptung eines Fortschritts des moralischen Bewusstseins.

    Dieser Tage bekam ich einen Essay des französischen Moralisten Michel de Montaigne (1533 bis 1592) zu Gesicht, der »Über die Menschenfresser« (1. Buch, Kapitel 33) überschrieben ist. Er ist unter Montaigne-Experten sehr berühmt. Ich muss allerdings eine Triggerwarnung voranschicken an meine Leser: Die Montaigne-Zitate, die gleich folgen, können ungute Vorstellungen und Gefühle auslösen.

    Montaigne lässt sich berichten

    Wie viele Menschen der damaligen Zeit interessierte sich auch Montaigne auf seinem Schloss in der südfranzösischen Dordogne für die Berichte aus der noch sehr neuen Neuen Welt. Als Kronzeugen bemüht er einen Forschungsreisenden, der ihm anschaulich und wahrheitsgetreu von den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen in (Süd)Amerika berichtet. Vermutlich handelt es sich um Brasilien, das damals eine französische Kolonie war. Montaigne vermutet, dass die abwertende Beschreibung der dortigen Einwohner als »Wilde« und »Barbaren« nicht aufrecht zu halten sei. Schon die alten Griechen nannten alle fremden Völker Barbaren, einfach nur deshalb, weil sie ihnen fremd waren, aber nicht, weil deren Sitten grausamer waren.

    Zum Beleg dieser Vermutung lässt Montaigne seinen Gewährsmann ausführlich berichten, wie die »Wilden« in Amerika Kriege führen (ich zitiere nach der viel gepriesenen Übersetzung von Hans Stilett): »Die Eingeborenen pflegen gegen die weiter landeinwärts jenseits der Berge lebenden Völkerschaften ihre Kriege zu führen, in die sie völlig nackt ziehen, ohne andere Waffen als ihre hölzernen Bögen und Schwerter. Die Härte ihrer Kämpfe, die niemals ohne mörderisches Blutvergießen enden, ist ungeheuer, denn von Furcht und Flucht wissen sie nichts. Jeder bringt als Trophäe den Kopf des von ihm getöteten Feindes mit und hängt ihn an den Eingang seiner Unterkunft.«

    Und dann kommt Montaigne darauf zu sprechen, wie die Eingeborenen mit einem Gefangenen umgehen, den sie vor den Augen einer großen Versammlung mit mehreren Schwertstreichen niedermachen: »Sodann braten sie ihn, essen gemeinsam von ihm und schicken einige Stücke auch ihren abwesenden Freunden. All dies tun sie keineswegs, um sich zu ernähren, sondern um ihren leidenschaftlichen Rachegefühlen Ausdruck zu geben.« Man könnte meinen, grausamer und barbarischer gehe es nicht mehr. Doch dann berichtet Montaigne übergangslos, wie die Portugiesen – kein wildes, sondern ein christliches Volk – die gefangenen Eingeborenen umbringen, »indem man sie bis zur Hüfte eingrub, auf den aus der Erde ragenden Oberkörper einen Pfeilhagel niedergehen ließ und sie dann aufhängte«.

    Ihn ärgere keineswegs, so kommentiert Montaigne, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit der »Wilden« zeigen. Empörend finde er indes, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen Grausamkeiten gegenüber so blind seien: »Ich meine, es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot aufzufressen.«

    Die Barbarei war nie weg

    Wir könnten die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, konzediert Montaigne, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei überträfen – nicht zuletzt darin, dass wir unserem barbarischen Verhalten auch noch einen Sinn unterlegten, um es zu rechtfertigen. Ent-Nazifizierung, Befreiung des russischen Volkes, so heißen die heutigen Rechtfertigungen, die aus westlicher Sicht absurd klingen, von den Aggressoren aber für bare Münzen genommen werden. Irgendeine Rechtfertigung lässt sich immer finden.

    Der große französische Ethnologe Claude Levy-Strauss hat Montaignes Menschenfressertext im Jahr 1992 einen großen Vortrag gewidmet: »Rückkehr zu Montaigne«. Wenn nach Maßgabe der Vernunft frühe und moderne Gesellschaften dazu neigen, der Barbarei zu verfallen, müsste ein »Gesellschaftsvertrag« zu Humanität und Moralität verpflichten. Gerade weil sich die Menschen im Lauf der Geschichte nicht etwa immer weniger barbarisch verhalten, sondern die Methoden ihrer Grausamkeit sogar noch verfeinern, hülfe eine Übereinkunft der Vernunft zu reziproker Friedlichkeit, so die Hoffnung von Rousseau oder auch Hobbes. Nicht aus Nächstenliebe oder aus pazifistischer Gesinnung, sondern weil es in allseitigem Interesse wäre, einander nicht mit Kriegen das Leben, die Freiheit, das Eigentum und die Chance, sein Glück zu verfolgen, mit Panzern und Raketen zu zerstören.

    Doch die Idee des Vertrages ist schön, aber brüchig, wie wir gerade sehen. »Entwickelte« Völker sind nicht besser als »primitive« Völker, die zu idealisieren (»edle Wilde«) ebenfalls in die Irre führt. Weder die Vernunft noch die Religion weisen einen Ausweg zum dauerhaften Frieden. Montaigne: »Unsere Religion ist gestiftet, die Laster auszurotten. Jedoch: Sie bahnt ihnen den Weg, unterhält und reizt sie noch.« Die religiöse Letztbegründung der barbarischen Aggression besorgt der Patriarch einer christlichen Kirche.
    Am Ende bleibt der Relativismus, die Einsicht, dass unsere Sitten nicht weniger eigentümlich oder gar »moralisch besser« sind als die der anderen. Bei Montaigne führt der Relativismus nie in einen zynischen Fatalismus. Zugleich hat er als Skeptiker Zweifel an der Idee einer Utopie, die meint, sie könne »nach Maßgabe der Vernunftregeln« unsere Welt pazifizieren. Weiter sind wir auch heute nicht. Die Barbarei war nie weg. Sie ist und bleibt immer präsent.

    Rainer Hank