Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen01. Juni 2021
Test-Muffel müssen sich nicht fürchtenWarum halten wir uns trotzdem brav an die Corona-Recht?
So fühlt sich Freiheit an: Platz nehmen, Speisekarte studieren, Bestellungen aufgeben. Wie lange hat uns das gefehlt! Jetzt also geht es los. Das gewöhnungsbedürftige Zauberwort heißt »Außengastronomie«. Vor den Genuss haben die Corona-Politiker die bestandene Aufnahmeprüfung gesetzt: Wer nicht genesen oder doppelt geimpft ist, der braucht einen frischen negativen Test. Da fängt unser innerer Utilitarist sogleich zu wägen an: Termin vereinbaren, Teststation aufsuchen, Ergebnis abwarten – und das alles für zwei Weizenbiere am kalten Maiabend?
Zwei Erfahrungen kann ich berichten. Beim ersten Mal ging es oberkorrekt zu. Vor Betreten des Gasthausgartens mussten wir einen Selbsttest machen, dann einchecken über die Luca-App, dann mit Maske der Wirtin das negative Ergebnis vorzeigen, die dafür ein mehr oder weniger amtlich aussehendes Dokument ausstellt. Zeitkosten circa fünfzehn Minuten, dann unbeschwert Abendessen. Das nächste Mal, andere Lokalität, ging es deutlich lockerer zu. Zwar stand auf der Schiefertafel am Eingang, der Zugang sei nur mit Test oder Doppelimpfung erlaubt. Gefragt hat uns niemand.
Dieser zweite Außengastronomie-Besuch, unaufwändig und an Eigenverantwortung appellierend, fühlte sich deutlich freiheitlicher an, hinterließ aber einen Rest schlechtes Gewissen: Ich hätte ja auch von mir aus das Testthema ansprechen können. Und was wäre passiert, wäre just beim Hauptgang (»Tartar Frites«) ein Kontrolleur erschienen? Oder es säße ein Superspreader mitten unter uns. Das müsste man wohl den Ischgl-Moment nennen.
Nüchtern Kosten und Nutzen abwägen
Gehen wir die Sache systematisch an. Gary Becker, Altmeister der Chicago-Schule der Ökonomie, 1992 mit dem Nobelpreis dekoriert, 2014 verstorben, pflegte gerne folgende Geschichte zu erzählen: Spät dran bei einem wichtigen Termin, steht er vor der Alternative, lange ein Parkhaus zu suchen und den Termin nicht zu schaffen oder im Parkverbot direkt vor seinem Ziel den Wagen abzustellen und einen Strafzettel zu riskieren. Becker entschied sich für das Parkverbot, nachdem er intuitiv die Strafzettel-Wahrscheinlichkeit als relativ gering und das drohende Knöllchen als verkraftbar taxiert hatte. Kosten-Nutzen-Erwägungen finden überall statt. Für den das Recht durchsetzenden Staat bedeutet das, dass er zwei Möglichkeiten hat: Entweder muss die Entdeckungswahrscheinlichkeit hoch sein (viele kontrollierende Polizisten) oder die Strafe saftig.
Zurück in die Außengastronomie: Die Entdeckungswahrscheinlichkeit scheint mir ziemlich gering zu sein. Es müssten in den kommenden Wochen viele Sheriffs durch deutsche Biergärten streifen, um zu kontrollieren, ob alle Gäste getestet (respektive genesen oder geimpft) sind. Und sähe das dann nicht wirklich arg nach Polizeistaat aus? Gemäß der Substitutionstheorie von Gary Becker müsste folglich die Strafe ordentlich ausfallen, um die Corona-Norm durchzusetzen. Wie hoch wäre das Bußgeld gewesen, hätte man mich beim Tartar ohne Impfausweis erwischt? Und wer müsste es bezahlen? Ich oder der Wirt?
Eine Recherche im Netz und im FAZ-Archiv brachte keine eindeutige Antwort. Also Nachfrage beim Hessischen Gesundheitsministerium. Die amtliche Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Die Höhe des Bußgeldes werde von der »kontrollierenden Gebietskörperschaft« festgelegt. Für Frankfurt wird eine Spanne zwischen 500 und 1000 Euro genannt. Belangt würde nicht ich, sondern der Wirt.
Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Das Risiko, ohne Testnachweis in der Kneipe erwischt zu werden, ist ziemlich gering, die mögliche Höchststrafe für den Kneipenbesitzer (1000 Euro) eher saftig. Doch wie soll man die abschreckende Wirkung einer Strafandrohung beurteilen, wenn es erst längerer Recherchen bedarf, um das Drohpotential zu eruieren? Das ist der Unterschied zwischen Corona-Neuland und dem Park-Knöllchen Gary Beckers, das vom Regelbrecher einfach zu kalkulieren ist. Jedenfalls müsste man aus Sicht der Staatsgewalt, welche die Einhaltung des Infektionsschutzgesetztes auch durchsetzen will, nachdenklich werden, ob das alles funktioniert. Aus Sicht des freiheitsliebenden Bürgers, der die Testpflicht zumindest im weitläufigen Biergarten ziemlich übertrieben findet, sieht schon anders aus.Die »expressive function of law«
Wie lässt es sich angesichts dieses Befunds erklären, dass mutmaßlich die meisten Bürger sich an die Corona-Regeln halten? Wenn wir alle rational handeln würden – was nicht mit »moralisch gut« verwechselt werden darf – würden wir ständig die Gesetze brechen, weil uns längst aufgegangen wäre, dass die Strafen nicht abschreckend, die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering und der Erwartungsnutzen des Regelverstoßes höher ist als der der Regeleinhaltung. Trotzdem halten wir uns in der Regel an das Recht. Alexander Morell, ein Professor für das Fach »Law and Economics« in Frankfurt, macht uns auf die Theorie der »expressive function of law« aufmerksam. Etwas holprig übersetzt ist damit gemeint, dass das Recht nicht nur die Strafandrohung als eine Art Marktpreis für Fehlverhalten kennt, sondern bei den Bürgern auch die Verpflichtung ins Gewissen einpflanzt, ihrer Zustimmung zu den vom Recht gesetzten Normen und Regeln Ausdruck zu verleihen (»express«), indem sie sie befolgen. Oder einfacher gesagt: Wir sehen uns gerne als gesetzestreue Bürger und deshalb halten wir uns an das Gesetz, weil wir uns dann irgendwie gut vorkommen. Wenn die Regierung anordnet, dass sich ein Haushalt nur mit einem anderen Haushalt treffen darf, machen wir das auch so, obwohl die Entdeckungswahrscheinlichkeit in der privaten Wohnung gleich null ist. Scham und schlechtes Gewissen – eine Art »soziale Strafsteuer« – sind in ihrer Wirkung einer Geldbuße durchaus ebenbürtig.
Die Theorie der »expressive function of law« ist nicht unplausibel, lässt sich freilich auch relativieren als nachvollziehbares Wunschdenken von Rechtsökonomen, welche gerne hätten, dass Gesetze intrinsisch befolgt werden. Wir hören aus Italien, dass dort das Rauchverbot in Restaurants vor allem deshalb so rasch durchgesetzt worden sei, weil die jeweils anderen Wirte die Gesetzesübertreter eifrig denunziert hätten. Dass Corona die Denunziationslust – und -angst beflügelt hat, lässt sich kaum bestreiten: der autoritäre Charakter ist keine besonders sympathische menschliche Eigenschaft, zur Regelbefolgung aber ganz nützlich.
Vielleicht – auch diesen Gedanken verdanke ich Alexander Morell – sind die vielen völlig unübersichtlichen und in vielen Fällen auch völlig übertriebenen Corona-Regeln hierzulande der Preis dafür, dass unser Staat sich verbietet, alles über uns zu wissen. Der digitale »Big Brother« würde sogar das Denunziantentum obsolet werden lassen. Paradoxerweise kann ein totalitärer Überwachungsstaat, der alles über seine Bürger weiß, in der Pandemie mehr Freiheiten zulassen. Aber soll man diese Freiheiten wirklich Freiheit nennen? Oder gäbe es einen dritten Weg für einen demokratischen Rechtsstaat, der sich im Verhältnis zu seinen Bürgern abstinent verhält, sie nicht ständig gängelt und überwacht und zugleich mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit des Regelwerks und auf die Eigenverantwortung der Bürger setzt? Genügend Diskussionsstoff jedenfalls für den nächsten Biergartenbesuch mit Freunden.
Rainer Hank