Rainer Hank als Illustration

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  • 28. Mai 2022
    Systemkollaps

    Mykene, im Nordosten der Peloponnes Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Auch ganze Zivilisationen können scheitern.

    Die Warnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist deutlich: Zu rechnen sei mit wirtschaftlicher Stagnation, verbunden mit weltweiter Inflation. Schlimmer noch: Es droht die internationale Ordnung zusammenzubrechen, auf die 75 Jahre lang Verlass war. Diese Ordnung gründete auf Regeln, an die sich Staaten und ihre Wirtschaftsakteure halten, weil es ihnen zum Vorteil gereicht. Die globale Arbeitsteilung fußt auf grenzüberschreitendem Handel, sie lebt vom Bekenntnis zur (sozialen) Marktwirtschaft und weiß, dass Zölle und andere Handelsschranken den Wohlstand schmälern. Man kann dies das Grundgesetz der Globalisierung nennen, die seit der Konferenz von Bretton Woods 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Menschen aus der Armut befreit hat und ihnen Frieden und Freiheit brachte. Weltkriege, so lautete die gemeinsame Überzeugung, bedrohen Freiheit und Wohlstand und werden geächtet.

    Die »Zeitenwende«, die wir gerade erleben, hebt diese Ordnung aus den Angeln: Wir leben an der Schwelle von einer regelbasierten zu einer machtzentrierten Weltordnung. Käme es so, wäre dies der Kipppunkt eines zivilisatorischen Rückfalls, der aus der Postmoderne direkt in die Archaik führte.

    Freunde des Fortschritts mögen sich nicht vorstellen, dass solch ein Rückfall möglich werden könnte. Nicht nur, weil dies aller Rationalität widerspricht, sondern auch, weil die meisten Menschen heutzutage in ihrem Leben stets eine Entwicklung zum Besseren erlebt haben.

    Nun wissen wir aus dem Schulunterricht, dass Untergänge vorkommen: 1914 brach eine liberale europäische Friedensordnung zusammen; es folgte ein kriegerisches 20. Jahrhundert. Das britische und das römische Imperium kollabierten, obwohl Generationen von Briten und Römern sich das vermutlich niemals hätten vorstellen können (und wollen).

    Der Untergang Mykenes

    Über die Ostertage war ich in Mykene – gelegen im Osten der griechischen Peloponnes in einer kargen, hügeligen Landschaft. Mykene – wir erinnern uns auch hier an den Schulunterricht – war nach Troia der zweite große Coup, den der deutsche Abenteurer Heinrich Schliemann (1822 bis 1890) landete. Im Jahr 1876 hatte er, ein glühender Verehrer Homers, in Mykene das Grab des Agamemnon entdeckt und nach erfolgreichen Grabungen riesige Schätze von Gold und Edelmetallen geborgen.

    Dass Schliemann tatsächlich das Grab des homerischen Helden entdeckt hat, wird von den Gelehrten bestritten. Doch das ist nicht mein Thema. Mich fasziniert seit dem österlichen Rundgang durch Mykene nicht nur die globale Zivilisation zwischen 1500 und 11000 vor Christus, sondern mehr noch die Frage, warum diese globale Zivilisation plötzlich und gleich weltweit untergegangen ist. Als mykenische Kultur bezeichnen die Altertumsforscher die mediterrane Welt des Bronzezeitalters, welche die gesamte Levante-Küste umspannte: also nicht nur die Peloponnes, sondern auch die Ägäis, Kreta, Zypern, die heutige Türkei, den Libanon, Palästina und Ägypten. Überall gab es mächtige Paläste, die miteinander durch Handelsrouten verbunden waren. Eine Welt, die man als globale Gesellschaft beschreiben kann. Schon damals war die Peloponnes überzogen mit Millionen von Olivenbäumen. Das daraus gewonnene Öl wurde in großen Kannen bis nach Ägypten exportiert. Sogar eine eigene Schrift gab es in Mykene, welche die Forscher Linear-B-Schrift nennen und als eine Variante des Altgriechischen entziffern.

    Um das Jahr 1200 v. Chr. kollabierte diese Kultur weltweit, allüberall. Erst 500 Jahre später kam es abermals zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Blüte in der Region. Dazwischen liegen »dunkle Jahrhunderte«, wo die die Menschen vergessen zu haben schienen, was sie einmal gekonnt hatten. Sogar die Schrift war ihnen abhandengekommen.
    Was war passiert? Die Forscher rätseln. Hypothesen sind in Umlauf. »Seevölker«, vermutlich Piraten, hatten die Städte überfallen und geplündert. Erdbeben, so meinen andere, waren eine Hauptursache des Niedergangs. Wieder andere verweisen auf den Klimawandel: Es gab eine globale Abkühlung verbunden mit längeren Dürreperioden oder großen Niederschlägen, was Hungersnöte nach sich zog. Schließlich könnten die sozialen Spannungen zugenommen haben, was zu revolutionären Aufständen geführt hätte.
    Was stimmt? Eine inspirierende – und beängstigende – Deutung vertritt der amerikanische Archäologe Eric H. Cline. Er spricht von einem »Systemkollaps«, verursacht durch unterschiedliche Faktoren, die einen Dominoeffekt auslösten: »Es war eben nicht die Invasion der Seevölker, es war nicht die Serie von Erdbeben in Griechenland, es waren nicht die Dürren, die ganze Regionen unbewohnbar machten – es war vielmehr eine Verkettung von Katastrophen.« Kein einzelnes Ereignis hätte die Katastrophe auszulösen vermocht, die Gleichzeitigkeit aller Faktoren indes ergab einen »Multiplikatoreffekt«, welcher die gesamte Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft kollabieren ließ.

    Optimismus ist Pflicht

    Ein Beispiel für diesen Dominoeffekt stammt von der britischen Historikerin Carol Bell. Zinn war in der späten Bronzezeit strategisch ähnlich bedeutend wie heute das Rohöl. Man brauchte es neben Kupfer zur Legierung von Bronze – nicht zuletzt also zur Herstellung von Waffen. Der Handel mit Zinn befand sich weltweit in der Hand von wenigen »Oligarchen« (Carol Bell nennt sie wirklich so) in der Stadt Ugarit im Nordwesten des heutigen Syriens. Die Verfügbarkeit von Zinn müsse für die Herrscher in Mykene oder die Pharaonen in Ägypten ähnlich essenziell gewesen sein wie Benzin für heutige Autofahrer oder Diesel für Containerschiffe, meint Bell. Zinn kam aus den Minen Afghanistans bis nach Mesopotamien im heutigen Irak und wurde von Ugarit aus weiter nach Norden, Süden und Westen, also auch bis auf die Peloponnes transportiert. Ein Überfall von »Seevölkern« in Ugarit verbunden mit der Entmachtung der Eliten (der »Zinn-Oligarchen«) hätte somit die gesamte Waffenproduktion in der Levante getroffen und die Verteidigung der Palastkultur geschwächt.

    Es ist diese Idee des »Systemkollapses«, die einen heute frösteln lässt. Hat nicht schon Corona die Lieferketten der industriellen Fertigung unterbrochen, Autarkiefantasien aufkommen lassen und die Globalisierung zur »Slowbalisierung« dezimiert? Zwingt uns nicht der Klimawandel zum Verzicht auf fossil generiertes Wachstum – während die Kompensation durch regenerativ erzeugtes Wachstum noch in weiter Ferne ist? Jetzt kommt auch noch der verbrecherische Krieg Russlands dazu, der die Welt in Blöcke spaltet – und angesichts ausbleibender Getreidelieferungen Hungersnöte in Afrika verursacht. So muss man sich Domino-Effekte vorstellen.

    Ich verbiete mir weitere Ableitungen – denn eigentlich habe ich mich auf das Motto des liberalen Philosophen Karl Popper verpflichtet: »Optimismus ist Pflicht.«

    Rainer Hank