Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen30. Juni 2020
Sklaverei und DemokratieDas passt doch nicht zusammen, oder doch?
Die Wiege der Demokratie liegt in Athen. Aber sie liegt auch in Nordamerika. Die Wiege der Sklaverei liegt in der Antike. Sie liegt aber auch in Nordamerika, wo britische Siedler billige Arbeitskräfte aus Afrika unterjochten, denen sie jene Freiheitsrechte vorenthielten, die sie für sich selbst erkämpft hatten. Wie passt beides zusammen? Dazu hilft ein Blick auf die Ökonomie mehr als der allgemeine Verweis auf rassistische Unmoral. Sklaverei hat wirtschaftliche Gründe, es sind paradoxerweise dieselben Gründe, die auch zur Demokratie führten. Aber der Reihe nach.
Im Jahr 1607 gründete die Virginia Company of London eine kleine Siedlung, die sich Jamestown nannte. Dass private Aktiengesellschaften die Kolonisierung der neuen Welt übernahmen, war durchaus üblich. Sie brauchen dafür lediglich eine Urkunde des englischen Königs, der ihnen das Recht der Besiedlung übertrug. Doch schalten und walten, wie sie wollten, konnten die tonangebenden Aktionäre gleichwohl nicht. Schnell hatten sie begriffen, dass gesellschaftlicher Konsens am besten über Teilhaberechte für alle Siedler sich herstellen ließ. Demokratie ist eine Art Verlegenheitslösung, wenn Autokratie nicht durchsetzbar ist.
So kam es zwischen dem 30. Juli und dem 4. August 1619 zur ersten demokratischen Volksversammlung in Virginia. Sie setzte sich zusammen aus dem Gouverneur und einem von der Aktiengesellschaft bestimmten sechsköpfigen Konzil. Hinzu kamen zweiundzwanzig gewählte Abgeordnete, jeweils zwei aus den elf Siedlungen von Virginia. Lang hatten sie es dort nicht ausgehalten, es muss unerträglich heiß und schwül gewesen sein. Aber geregelt wurde, dass ein entscheidendes Recht fortan vom Siedlungsunternehmen auf das Parlament übergehen sollte: Das Recht, Steuern zu erheben. Seither gilt das Haushaltsrecht als Königsdisziplin eines demokratischen Parlaments. Die Bürger wollen selbst darüber entscheiden, welchen Anteil ihres wirtschaftlichen Erfolgs sie an den sie schützenden Staat abzugeben bereit sind. Parlamentarische Kontrolle verhindert, dass mit ihrem Geld Schindluder getrieben wird. »No taxation without repräsentation«.
Das Schicksal der afrikanischen Einwanderer
Lange vor der Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1776 gab es in den Staaten der neuen Welt bereits viel Demokratie: Während in Massachusetts Dreiviertel der männlichen Bevölkerung wählen durften, waren es zur gleichen Zeit im 17. Jahrhundert in England (auch ein Mutterland der Demokratie) gerade einmal drei Prozent. Diese Freiheit as war ein starker Anreiz für viele, sich unter schweren Bedingungen auf den Weg in die neuen Kolonien zu machen. Die Einführung der Demokratie für größere Bevölkerungsgruppen, so könnte man zugespitzt sagen, entsprang weniger einer moralphilosophischen Grundüberzeugung, als der Not, in einem weiten Land ansonsten nicht genügend Untertanen zu finden. Man lockte Bürger, indem man ihnen Wahlrechte anbot.
Doch warum wurde britischen Einwanderern Freiheit und Demokratie versprochen, während das Schicksal der afrikanischen Einwanderer die Sklaverei war? »Die Faktoren, die zur Einführung der Demokratie führten, sind dieselben, die auch zur Erfindung der amerikanischen Sklaverei führten«, heißt es in einem neuen Buch des Politikwissenschaftlers David Stasavage über »The Decline and Rise of Democracy«. Es sind beide Male ökonomische Gründe.
Wie kam es überhaupt zur Sklaverei? Laut einer wichtigen Untersuchung des Wirtschaftswissenschaftlers Evsey Domar aus dem Jahr 1970 besteht das zentrale Problem der Besiedlung des neuen Kontinents darin, dass es viel Land, aber wenig Arbeiter gibt. Das ganze Land nützt einem aber nichts, wenn keine Leute da sind, die es urbar machen, Landwirtschaft betreiben, um Vieh und Ackerfrüchte zu verkaufen. Die strukturelle Knappheit an Arbeitern setzt einen Anreiz für die Landbesitzer, Menschen zur Arbeit zu zwingen und dafür zu sorgen, dass ihnen die Leute nicht davonlaufen. Wichtiger als das Land zu kontrollieren ist es für die Landeigentümer, die Leute zu kontrollieren. Rechtlose Leibeigene hoffte man besonders gut kontrollieren zu können.
Dass es einen Zusammenhang zwischen knappem Arbeitsangebot und Sklaverei gibt, leuchtet unmittelbar ein. Doch dann stellt sich umso schärfer die Frage, wie es kommen kann, dass die Knappheit der Arbeit auf der anderen Seite und just zur selben Zeit auch zu Einführung der Demokratie führte. Auch hier findet Stasavage eine ökonomische Erklärung: Alles hängt von den Exit-Optionen der Arbeiter ab. Fällt es den Arbeitern leicht, sich aus der Abhängigkeit von ihrem Großgrundbesitzer zu befreien, muss der ihnen höhere Löhne und der Staat ihnen politische Freiheit bieten. Gibt es keine Exit-Option, kann man sie bei mickriger Bezahlung versklaven.
Die Exit-Option entscheidet alles
Und genau hier liegt der Unterschied zwischen den weißen und schwarzen Migranten. Denn die neuen Staaten bedienten sich auch gerne rechtloser Auswanderer aus Großbritannien als Arbeiter, die vertraglich zu jahrelangem Dienst verpflichtet waren, um die hohen Kosten für die Passage nach Amerika zu bezahlen. Doch nicht alle ließen das mit sich machen, büxten aus, gründeten selbst Farmen. Hinzu kam, dass Großbritannien, ein früher Rechtsstaat, solche Ausbeuterverträge immer wieder ahndete. Kurzum: Die weißen Auswanderer hatten starke Exit-Optionen, auf welche die Landbesitzer mit dem Angebot demokratischer Mitbestimmun reagierten.
Ganz anders war die Lage bei den Afrikanern, die seit 1619 in Virginia, Maryland und anderen Kolonien landeten. Ihre Exit-Optionen waren weitaus geringer: Sie sprachen kein Englisch, waren weitaus hilfloser, weil nicht vertraut mit der dominanten britischen Kultur und – und hier kommt der ethnozentrische Rassismus ins Spiel – wurden von den britischen Siedlern als Menschen minderen Werts behandelt. Der immense Erfolg der Tabakplantagen und des Exports von Tabak nach England, nicht zuletzt, weil Rauchen als Medizin gegen die Große Pest von 1665 in London galt, führte zu einem enorm wachsenden Bedarf afrikanischer Arbeitskräfte. In Georgia, wo man aus ökonomischen (nicht moralischen) Gründen eine Zeitlang die Sklaverei verboten hatte, kehrte man bereits Anfang des 18. Jahrhunderts wieder dazu zurück mit wirtschaftlichen Argumenten, die an Kälte kaum zu übertreffen sind: Auch wenn die Marktpreise für weiße Engländer billiger seien und die Präsenz der Schwarzen womöglich den Fleiß der Weißen dämpfe, empfehlen die Grundbesitzer, afrikanische Sklaven zu beschäftigen. Sie seien körperlich besser für die schwere Landarbeit geeignet und könnten das schwül-warme Klima eher vertragen, während Engländer rasch gesundheitlich schwächelten.
Fazit: Die großen Pioniere der Demokratie in Amerika waren zugleich große Sklaventreiber. Sklaverei wie Demokratie sind Erfindungen, die ökonomischem Kalkül entsprangen. Im Kampf um knappe Arbeitskräfte haben sich in den Gründungsjahren der Vereinigten Staaten aus derselben Siedlungslogik heraus politische Freiheit und politische Unterdrückung ergeben. Es sollte über dreihundert Jahre dauern, bis Schwarzen und Weißen gleich Rechte von der Verfassung gegeben wurden. Dass die Ungleichheit damit noch lange nicht beendet war, zeigen die Auseinandersetzungen des Sommers 2020.
Rainer Hank