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  • 11. August 2020
    Sind Seuchen sozial?

    New York, 939 Lexington Avenue Foto Tabitha Turner/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Nein. Die Welt wird nach Corona ungleicher sein.

    Sind Seuchen die »sozialsten aller Krankheiten«? Solche Behauptungen hört man derzeit öfter: Seuchen treffen nie nur den Einzelnen, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Daraus lässt sich dann ableiten, dass auch alle Menschen gleichermaßen Anspruch haben auf Hilfe, eben weil eine Pandemie wie Covid 19 weder Arme noch Reiche verschont. Ob man diese Nichtdiskriminierung »sozial« nennen sollten, scheint mir eher unangemessen zu sein, zumindest dann, wenn bei »sozial« die Assoziation »solidarisch« oder gar »gemeinnützig« mitschwingt.

    Auch wenn das Virus nicht diskriminiert, der ökonomische Schock, den die Pandemie auf die Welt gebracht hat, tut es durchaus – und zwar in erheblichem Maße. Die Frage ist bloß wie: Wird die Welt nach Corona gleicher oder ungleicher? Folgt man Walter Scheidel, einem an der Universität Stanford lehrenden Althistoriker, müsste Corona die Welt egalisieren. In seinem Buch »Nach dem Krieg sind alle gleich« (englisch: »The Great Leveller«) zeigt er, dass in normalen Zeiten die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen stets größer wird, während hingegen schlimme Zeiten wenigstens ein Gutes haben: Sie nivellieren Einkommensabstände. »Schlimme Zeiten«, das sind große Kriege, Revolutionen, dramatische Staatspleiten und eben Pandemien. Sie eint, dass die Vermögen der Reichen vernichtet werden und zugleich ärmere Schichten mehr Geld haben, weil – so zynisch es klingt – nach der Katastrophe weniger Menschen übrig sind, die um Arbeitsplätze konkurrieren. Das Arbeitsangebot ist knapper geworden, die Nachfrage aber wächst in Zeiten des Wiederaufbaus. Der Befund trifft besonders für die Zeit vor hundert Jahren zu, weil damals das Ende des Ersten Weltkrieg und die schreckliche Spanische Grippe in ihrer Wirkung sich überlagerten.

    Die Wahrheit der Kreditkarten

    Gilt also auch: Nach Corona sind alle gleich? Vermutlich nicht. Eher ist zu befürchten, dass Covid19 die Welt ungleicher machen wird und dass vor allem die Ärmeren leiden werden. Die Aktienbesitzer konnten sich nach einem kurzen Schock wieder freuen; ihr Depot erreicht bald wieder die Vor-Corona-Höchststände. Dass die hohe Staatsverschuldung einen Schuldenschnitt für Millionäre mit sich bringt, ist kaum zu befürchten; eher trifft eine Inflation alle, vor allem die Ärmeren. Jetzt schon steigt weltweit die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei gering Qualifizierten. Mehr noch: Corona wurde nicht selten aus den reichen Städten der Welt in die armen Länder verschleppt. In den reichen Ölstaaten des vorderen Orients bedeutete der Lockdown, dass Hundertausende Wanderarbeiter aus Indien, Bangladesch oder Indonesien nachhause geschickt wurden mit der Folge, dass sie das Virus in ihre Heimat importierten. Sozial kann man das nicht nennen.
    Doch welche Verteilungswirkung das das Virus in reichen Ländern? Aggregierte Zahlen – Rückgang des Bruttosozialprodukts, steigende Arbeitslosigkeit – bleiben ziemlich abstrakt. Wie soll man sich einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent konkret vorstellen, den die Statistiker für das zweite Quartal in Deutschland errechnet haben?

    Einen faszinierenden Versuch, Verteilungswirkungen konkret zu machen, hat jetzt der Harvard-Ökonom Raj Chetti zusammen mit seinem »Opportunity Insight Team« unternommen. Er greift auf Big Data zurück, um das wirkliche Verhalten von Unternehmen und Menschen in der Krise zu untersuchen. Dazu wertet das Team Daten zum echten Konsumverhalten der Menschen aus, die von Kredit- und Debit-Kartenunternehmen zur Verfügung gestellt werden. Für sensible deutsche Datenschützer muss man sogleich hinzufügen, dass es sich zwar um eine Fülle von Echtzeitdaten handelt, die man am Markt kaufen kann, die aber selbstverständlich alle anonymisiert sind.
    Was kommt dabei heraus? Zunächst: Der größte Anteil der ausbleibenden Wirtschaftsaktivitäten lässt sich auf den zusammengebrochenen Konsum zurückführen. Das wiederum liegt weniger an schwindender Kaufkraft, sondern am coronabedingt verriegelten Angebot insbesondere bei allen personenbezogen Dienstleistungen: Hotels, Restaurants, Reisen, Einkäufe in der Boutique – all das kam zum Erliegen in den Zeiten des harten Lockdowns, was man daran sehen konnten, dass Kreditkarten viel weniger belastet wurden. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied: der Konsum der Reichen ging in Amerika im zweiten Quartal 2020 viel stärker zurück als die Geldausgaben der Ärmeren, und zwar proportional wie absolut. Die Reichen reduzierten ihre Konsumausgaben um 3,1 Milliarden Dollar (31 Prozent), die Armen lediglich um eine Milliarde (23 Prozent).

    Nichts gegen die Trickle-Down-Theorie

    Was hat das mit der Ungleichheit zu tun? Viel. Denn dort, wo die Reichen üblicherweise viel Geld lassen – in Restaurants, in teuren Boutiquen oder Hotels, auf Kreuzfahrten – stieg die Arbeitslosigkeit signifikant an. So ist das in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wo die einen auf die anderen angewiesen sind. Wanderarbeiter werden in ihre arme Heimat zurückgeschickt. Bedienungspersonal in Hotels und Gaststätten der Upper East- oder Westside Manhattans wird in die Arbeitslosigkeit geschickt. 70 Prozent der Arbeiter im Niedriglohnbereich, die in reichen Stadtteilen Manhattans ihre Jobs hatten, verloren ihre Arbeit. Die Arbeitslosigkeit der Bronx nahm hingegen viel weniger zu. Man könnte sagen: Hier hat sich die geschmähte Trickledown-Theorie bewahrheitet. Ärmere sind auf Reichere angewiesen. Wenn die Reichen kein Geld ausgeben können, leiden darunter vor allem die Armen.

    Ein weiteres Indiz dafür, dass die Ungleichheit durch Corona größer wird, zeigen Chettis Daten über die Inanspruchnahme von Bildung, die der Ökonom von Daten verbreiteter Mathematik-Apps bezieht. Während des harten Lockdowns haben sich Collegestudenten allüberall wenig mit Mathematik beschäftigt. Als sich die Lage entspannte, fingen Studenten aus bildungsbürgerlichen Schichten sogleich wieder an, Matheaufgaben zu lösen, während Kommilitonen aus ärmeren Milieus deutlich länger säumig blieben. Das korrespondiert mit einem Befund des deutschen Ifo-Instituts: Nicht-Akademikerkinder und leistungsschwache Schüler fanden in der Krise besonders selten Hilfe zum Lernen.

    Die entscheidende Frage ist jetzt, ob sich die Kluft zwischen Arm und Reiche wieder schließen wird, wenn Corona vorbei ist. Auch hier ist Skepsis angebracht. Unterschiede im Lernverhalten werden ohnehin längerfristige negative Wirkungen haben. Aber auch die Veränderung der Arbeitswelt könnte sich negativ auswirken: Wenn viele gut bezahlte Banker oder Anwälte in Frankfurt künftig häufiger zuhause irgendwo in der Wetterau arbeiten, werden sie nicht mehr in den teuren Restaurants des Frankfurter Westends essen. Und wenn Migranten und Wanderarbeiter als virologisch gefährlich gelten (Tönnies), könnte es sein, dass Schlachtbetriebe aus Kostengründen künftig stärker automatisieren und Roboter die Schweine zerlegen. Ein steigender Mindestlohn – wie hierzulande beschlossen – bei gebremster Globalisierung und reduziertem Arbeitsangebot, würde diesen Trend verstärken.

    Soweit sich die Lage Anfang August 2020 überblicken lässt, sieht es so aus, als ob diese blöde Pandemie noch nicht einmal als Egalisierungsmaschine taugt.

    Rainer Hank