Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 28. April 2020
    Seuchensozialismus

    Wollen wir immer so leben Foto pisauikan on unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie die Corona-Krise Utopien als Dystopien entlarvt

    Was macht den Menschen am meisten Angst in dieser Krise? Josh Cohen arbeitet als Psychoanalytiker in seiner Praxis in London. In den vergangenen Wochen hat er viele Patienten behandelt, die ihm von ihren aktuellen Ängsten erzählt haben. Dabei stellte sich heraus: Schlimmer als die Angst sich zu infizieren, zerstörerischer als die Sorge um das künftige Einkommen ist die Erfahrung, plötzlich keine Arbeit zu haben. Leere und Sinnlosigkeit tun sich auf. »Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren«, so berichtet Cohen die Aussage einer Patientin in einem Artikel im »Guardian«. Der Psychoanalytiker folgert: Jetzt spüren wir, wie abhängig wir davon sind, dass wir Arbeit haben.

    Wenn nicht mehr selbstverständlich, wird plötzlich der Wert der Normalität bewusst. Arbeit ist unser Leben und ohne Arbeit verlieren wir uns selbst. Das wirft ein Licht auf einen breiten Strom von Utopien, welche die Befreiung von der Arbeit als Ziel der Menschheit beschrieiben. Oscar Wilde, der britische Exzentriker an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, träumte davon, dass im Sozialismus niemand mehr arbeiten müsse (»The Soul of Man«). Die Menschen bräuchten dann keine Sklaven mehr zu sein und könnten sich stattdessen Maschinen als Sklaven halten, um ihrerseits der Selbstverwirklichung zu frönen. Es sind Künstler-Träume einer befreiten Gesellschaft, die das unterdrückende Reich der Arbeit hinter sich gelassen hat.

    Die Corona-Krise bietet unfreiwillig die Chance, die ein oder andere lieb gewordene Utopie dem Realitätscheck zu unterwerfen – zugegeben unter bösen Bedingungen. Viele dieser Utopien zerplatzen oder wandeln sich gar von der Utopie zur Dystopie, ihrem pessimistischen Gegenbild. Die Welt ohne Arbeit ist ja nicht nur die Fantasie früherer Sozialisten. Seit geraumer Zeit wird sie auch von heutigen Top-Managern großer Unternehmen propagiert: In einer digitalen Wirtschaft, in welcher die Roboter und Algorithmen die Arbeit übernehmen und für die Gewinne der Unternehmen sorgen, lasse sich eine Art Maschinensteuer abschöpfen, die allen Menschen ein garantiertes Grundeinkommen sichert, ohne dass sie dafür arbeiten bräuchten. Allzu fern von dieser Welt sind wir derzeit nicht: Das Kurzarbeitergeld, das viele jetzt beziehen, ist nichts anderes als eine Art »bedingungsloses Grundeinkommen«, um den entfallenen Lohn zu kompensieren. Doch jetzt spüren wir, Geld ohne Arbeit ist nicht die Erfüllung des Lebenssinns. Auch die Hoffnung, befreit von der Sklaverei entfremdeter Büroarbeit würden wir nun endlich in unserem Homeoffice kreativ und zu uns selbst finden, könnte trügen. Befriedigender ist es, wenn der Lohn »Belohnung« ist für die Arbeit und diese im sozialen Austausch stattfinden kann.

    So also sieht Degrwoth aus

    Ernüchterung gegenüber dem utopischen Potential einer »besseren« Welt lässt sich auch auf anderen Feldern studieren. So erleben wir derzeit, zweitens, auch den Praxistest der Degrowth-Idee, die häufig im Bündnis mit radikalen Umwelt- und Klimautopin daherkommt. Degrowth meint: Wir haben es mit dem Wachstum übertrieben, haben vergessen, was unsere wahren Bedürfnisse sind und sind dabei, mit unserer Gier uns selbst zu verlieren, darüber hinaus die Umwelt zu zerstören, mithin den nachfolgenden Generationen die Lebensgrundlage zu entziehen. Weltweit hat sich diese »Degrowth-Bewegung«, die für Wachstumsrücknahme, Bescheidung der Bedürfnisse oder aktive Schrumpfung wirbt und sich anschickt, die etwas angestaubte kapitalismuskritische Attac-Bewegung abzulösen. »Schnecken aller Länder, vereinigt euch!«, so lautet das Motto.

    Radikaler und rascher als der Virus es geschafft hat, hätte es die Degrowth-Bewegung nie vollbringen können: Das erste halbe Jahr 2020 verläuft wirtschaftlich tatsächlich im Schneckentempo. Wir erleben einen Einbruch des Wachstums, wie er zuletzt während der großen Kriege des 20. Jahrhunderts zu beobachten war. Selten war der ökologische Fußabdruck der Menschen so schonend wie heute, dazu muss man sich nur den kerosinfreien blauen Himmel anschauen. Doch der Preis ist hoch: Quer durch alle Branchen brechen den Konzernen die Umsätze weg und der Bewegungsradius der Menschen ist aufs Äußerste reduziert, auf den Alltag in Heim und Herd.

    Das hängt, drittens, mit der Frage zusammen, ob wir es mit der Globalisierung übertrieben haben. Auch davon sind viele überzeugt: Weil wir alle global vernetzt sind, habe es nur wenige Wochen gebraucht bis das Virus überall auf der Welt mit exponentieller Geschwindigkeit sein Geschäft habe erledigen können. Unsere Abhängigkeit von der weltweiten Arbeitsteilung führe jetzt dazu, dass Medizin und Mundschutz, weil in China produziert, hierzulande nicht mehr zur Verfügung stünden. In der Tat: Globalisierung und Verletzlichkeit gehören zusammen. Aber was ist die Alternative? Eine Welt, wie jetzt, in der die nationalen Grenzen so dicht sind wie nie? Das mag die Welt sein, die TTIP-Gegner (wer weiß noch, was das war?) sich wünschen. Für Liberale hingegen bleiben offene Märkte essentiell, und gute Linke müssten darauf pochen, dass auch Migration in einer Welt geschlossener nationaler Clubs zum Erliegen kommt. Schon 50 Flüchtlingskinder aus Griechenland scheinen inzwischen Deutschland zu überfordern.

    Der Abgrund der Staatsbedürftigkeit

    Was ist, viertens, mit dem Staat, den so viele sich zurückgewünscht haben, um den imperialen Neoliberalismus zu bändigen? Jetzt ist er wieder da. Der Staat nimmt Billionen Euro in die Hand, so viel Geld wie noch nie, um die Schäden der Krise zu begrenzen. Aber auf den aktuellen Nutzen folgen spätere Kosten. Wo überall sie anfallen werden (Inflation, Schrumpfen des Sozialstaats, oder eher Deflation) weiß heute noch niemand. Wenn das Geld vom Staat (und nicht vom Kunden) kommt, schulen Unternehmer sich im »Rent-Seeking«, im Geld abholen, wo es geht: die KfW wird es schon richten. Es siegt der Cleverste. In dieser Welt geht es fast so raffgierig zu, wie die Staatsfreunde sich immer die Kapitalisten vorstellen. Der Staat ist als Planer jetzt in der Tat gefordert, aber zugleich völlig überfordert, wenn er sich zum Beispiel anmaßt zu wissen, ob ein Händler mit 800 Quadratmetern Verkaufsfläche weniger infektionsgefährdend ist als mit 810 Quadratmetern. In der Krise zeigt sich die Staatsbedürftigkeit unserer Gesellschaft, aber auch deren Abgründigkeit.

    Es mag nicht fair sein, den utopischen Gehalt der Corona-Welt zum Indiz für ihre dystopische Wirkung zu machen. Doch als Rechenübung könnte gelten: Man nehme das Krisen-Design (Ersatzeinkommen ohne Arbeit, Wirtschaft ohne Wachstum, Handel im Nahbereich und ohne Migration, Anerkennung der Staatsbedürftigkeit) und ziehe davon Corona ab. Ist das, was übrigbleibt, dann jene »bessere Welt«, die zu bauen die Krise zur Zäsur und Chance werden ließe, wie jetzt viele sagen. Ich gestehe: Da ist mir die gute alte Welt vor Corona lieber. Lieber jedenfalls als der neue Seuchensozialismus jener orakelnden Propheten, die uns, frei nach Karl Popper, ein Paradies versprechen, das sich am Ende als Hölle erweisen könnte.

    Rainer Hank