Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen27. Juli 2020
Schweinekotelett in KräutermarinadeBilliges Essen macht arme Menschen satt und reich
Nahrungsmittel sind zu billig. Das hört man jetzt ständig. Die Corona-Masseninfektionen auf den Schlachthöfen gelten als Beweis. Die Begründung geht ungefähr so: Schlecht bezahlte Arbeiter aus Osteuropa verarbeiten unter unwürdigen Arbeitsbedingungen in Massentierfarmen gezüchtete Tiere, bloß damit wir hinterher beim Discounter vier Nackensteaks in Kräutermarinade zum Preis von 2 Euro 89 (alle viere, wohlgemerkt) kaufen können.
Selbst wenn die Voraussetzungen der Argumentationskette zuträfen, ist dann die Schlussfolgerung korrekt? Wären die Arbeitsbedingungen für Menschen und die Wohlfühlbedingungen für Tiere besser, wenn unsere vier Nackensteaks für den doppelten Preis von 5,78 Euro verkauft würden? Böse Kapitalisten (wie es die Fleischfabrikanten nun einmal sind!) würden doch die höhere Marge sogleich ihren fetten Gewinn aufaddieren, anstatt das Geld an Öko-Bauern und Werkevertrags-Arbeiter weiterzugeben. Allein dieses Gedankenexperiment macht deutlich, dass es ein riskantes Unterfangen ist, die Welt über höhere Preise verbessern zu wollen. In der Wirtschaftsgeschichte war es bislang jedenfalls eher üblich, dass die Welt sich über einen niedrigeren Preis gewandelt hat – zumal dies stets mit einem verteilungspolitischen Fortschritt verbunden war: Teure Dinge können sich nur die Reichen leisten. Billige Waren können Arme und Reiche kaufen.
»Gute Lebensmittel muss sich in Deutschland jeder Bundesbürger leisten können«, verkündeten deshalb kürzlich Lidl & Co. Der Aufschrei war groß – vor allem von der mächtigen Wohlfahrtsindustrie, die durch die Einmischung der Discounter ihr Geschäftsmodell angegriffen sahen. Wer behaupte, billige Lebensmittel nützten den Armen, verhalte sich zynisch und missbrauche die Sozialhilfeempfänger, konterte der paritätische Wohlfahrtsverband, der kein Problem damit hat, dass Lebensmittel teurer werden: Wenn zugleich die Hartz-Sätze erhöht werden, müssen die Armen sich keine Sorgen machen. Eher schon die reicheren Bürger, die dann nicht nur beim Aldi, sondern auch beim Fiskus mehr Geld auf den Tisch legen müssen, um die Hartz-Sätze zu finanzieren.
Niedrige Preise sind Treiber des Fortschritts
In historischer Perspektive haben nicht die Barmherzigkeitsverbände, sondern die Discounter Recht: Niedrige Preise für Lebensmittel sind kein Skandal, sondern der Treiber des verteilungsgerechten Fortschritts. Während im Jahr 1850 hierzulande noch 61 Prozent der Konsumausgaben für Essen und Trinken (und Rauchen) aufgewendet werden mussten, waren es im Jahr 2018 nur noch knapp 18 Prozent. Das gesparte Geld kann für alternative Wünsche ausgegeben werden – Reisen an die Nordsee oder die Miete einer größeren Wohnung. Noch nie hat die Menschheit sich so gut ernährt wie heute. Noch nie mussten so wenige Menschen hungerleiden – trotz der Vermehrung der Weltbevölkerung.
Es waren vor allem vier große Innovationen, die zur Verbilligung von Lebensmitteln beitrugen. (1) Chemie (vor allem die Erfindung von Nitratdünger) hat die Erträge der Landwirtschaft verbessert. (2) Kapitaleinsatz – die Erfindung von Landmaschinen – hat die Arbeit auf den Höfen und Feldern erleichtert. (3) Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie profitierten von Skaleneffekten. (4) Globalisierung vergrößerte das Lebensmittelangebot auf den Märkten und verbilligte die Waren aus aller Welt.
Dass die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert zu großen Teilen auch auf der Verbilligung von Lebensmitteln beruht, kann man einer spannenden Arbeit von Sébastian Rioux entnehmen: »The Social Cost of Cheap Food«. Rioux lehrt politische Ökonomie an der Universität von Montreal in Kanada. Er hat die Veränderung der Preise und der Versorgung mit Lebensmitteln im England des Viktorianismus zwischen 1830 und 1914 untersucht. Es waren Straßenhändler in London (genannt »Costermonger«), die zur enormen Verbilligung des Angebots von Fisch, Gemüse und Obst beitrugen. Sie waren zumeist im Verbund einer Kleinfamilie organisiert, wo auch die Kinder arbeiten mussten. Im Jahr 1851, so berichtet Rioux, wurden auf den Märkten Londons Aufzeichnungen zufolge 145 000 Rebhühner, 107 000 Schnepfen, 40 000 Bachstelzen, 313 000 Lerchen, 102 000 Feldhasen, 860 000 Kaninchen und rund eine Million Gänse angeboten. Nebenbei erfährt man hier, welche Vögel der Brite damals als Delikatesse ansah, die es heute nicht mehr in unsere Feinkostgeschäfte schaffen würden. Nach dem Fall der protektionistischen Korn-Gesetze 1847 konnte sich die Globalisierung in England mit preissenkender Macht Raum schaffen: Es gab Butter aus Dänemark, Orangen aus Spanien, Käse und Schinken aus Amerika und Fleisch aus Neuseeland. Fast wie heute, möchte man sagen. Schiffe mit moderner Kühltechnik und ein ständig wachsendes Eisenbahnnetz sorgten für die Verteilung frischer Waren.
Die armseligsten Gestalten dieser Fortschrittsgeschichte aber sind die erwähnten Straßenhändler, deren Geschichte wie ein Roman von Charles Dickens klingt. Sie mussten die sozialen Kosten des Fortschritts schultern. Schätzungen zufolge gab es Mitte des 19. Jahrhunderts 35 000 dieser Kleinhändler in London. Sie hatten morgens zwischen vier und fünf Uhr an Farringdon Market ihre Waren abzuholen: Das war der Beginn eines langen Arbeitstages, der erst am späteren Abend und mit insgesamt 90 Wochenstunden endete. Der große Traum dieser Lebensmittelhändler bestand darin, sich einen Eselkarren leisten zu können, der ihnen die Arbeit erleichterte. Doch die wenigsten haben es dahin gebracht: ihr Durchschnittseinkommen lag bei zehn Schilling die Woche; ein Wagen kostete zwischen 24 und 40 Schilling.Die Massen profitieren, die Straßenhändler darben
Die Händler mussten sich mit einer geringen Profitmage zufriedengeben, weil der harte Wettbewerb ihnen nicht erlaubte, höhere Preise zu nehmen. Und genau das war die Voraussetzung für den Aufstieg der Massen, folgt man Sébastian Rioux, dem Wissenschaftler aus Kanada. Denn das steigende Nominaleinkommen der Arbeiter im Zuge der Industrialisierung wandelte sich durch die gleichzeitige Verbilligung der Lebensmittel in einen zusätzlichen realen Einkommensvorteil. Die Arbeiter konnten sich diese Lebensmittel leisten und mussten weniger Hunger leiden, weil die Straßenhändler sie ihnen zu Preisen anboten, die deren eigene Lebenslage verschlechterte. Die dialektische Lehre lautet: Der ökonomische und physiologische Fortschritt der Armen seit dem 19. Jahrhundert beruht auf der Ausbeutung einer Teilgruppe der Ärmsten, der Lebensmittelproduzenten und -händler, deren Lage sich nicht verbesserte.
Ganz offensichtlich hat sich an diesem Muster bis heute nichts geändert, was man nun wirklich nicht feiern muss. Die Löhne in der Lebensmittelindustrie liegen im Vergleich mit anderen Branchen am unteren Ende der Tarifskala. Der Wohlstand der breiten Massen beruht immer noch auf der finanziellen Schlechterstellung der Arbeiter in der Fleischindustrie. Wer daran etwas ändern will, sollte nicht auf Mindestpreise setzen, sondern auf eine humane und strikte Regulierung der Arbeitsbedingungen – und auf eine bessere Integration der osteuropäischen Arbeiter in unsere Gesellschaft, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglicht. So hat es auch bei den Gastarbeitern der sechziger Jahre funktioniert!
Rainer Hank