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  • 13. Juli 2020
    Schützt den Kapitalismus vor den Kapitalisten!

    Tönnies: Kapitalistische Fleischproduktion Foto Tönnies

    Dieser Artikel in der FAZ

    Kapitalisten sind schlimmer als Antikapitalisten

    Die Antikapitalisten haben Oberwasser. Sie verdammen den Markt und loben den Staat. In der Pandemie ist der Eindruck entstanden, es sei wohl am besten, wenn der Staat nicht nur im Ausnahmezustand, sondern dauerhaft in der Wirtschaft nach dem rechten schaut. Die Regierung kümmert sich um die Löhne (Kurzarbeitergeld, Mindestlohn), ersetzt den Unternehmen ihre Verluste und gibt mit Milliarden Euro Anreize zum ökologischen Produzieren und Investieren (Konjunktur- und Wiederaufbaupakte). Sollte es am Geld mangeln, lässt man anschreiben (genannt Staatsverschuldung) oder bittet die Zentralbank um einen Obolus. Aus Gründen des Heimatschutzes kann man dann noch das ein oder andere Biotech- oder Luftfahrtunternehmen (teil)verstaatlichen (»Methode Altmaier«), damit gesichert ist, dass deren Eigentümer im Interesse des deutschen Volkes und nicht im Auftrag reicher ausländischer Investoren und Kunden wirtschaften.

    Was herauskommt, wenn man die Kapitalisten werkeln lässt, sei doch unschwer zu sehen, sagen die Kritiker. Die Gier des Gütersloher Fleischfabrikanten Clemens Tönnies gilt als Beweis dafür, dass die privaten Fabrikanten sind, was sie immer schon waren: Ausbeuter und Sklavenhalter, die um des nackten Profits willen ihre Leute einem möglicherweise tödlichen Risiko aussetzen. Und die Gier des langjährigen Finanzdienstleisters Wirecard zählt als Beweis, dass die Skrupellosigkeit der Kapitalisten noch nicht einmal davor zurückschreckt, das Vermögen von Millionen Anlegern zu vernichten und die Arbeitsplätze Tausender Angestellter gleich mit. Kurzum: Der Kapitalismus versaut die Sitten. Er bringt nur Unglück über die auf dem Planeten lebenden Menschen.

    Die Kritik am Kapitalismus ist so naheliegend wie abgestanden. Sie ist vor allem falsch und wird durch Wiederholung nicht richtig. Der zentrale Denkfehler: Die Antikapitalisten verwechseln die Kapitalisten mit dem Kapitalismus. Der Kapitalismus ist ein Segen für die Menschen, er bringt Fortschritt und Wohlstand und hat stets mehr neue Jobs geschaffen als alte vernichtet. Wer es nicht glaubt, kann sich die Daten der imponierenden Wirtschaftsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre in den Industrieländern ansehen.

    Niemand mag den Wettbewerb so wenig wie die Kapitalisten

    Wer sind die Kapitalisten? Das sind Eigentümerunternehmer und ihre angestellten Manager, einerlei ob sie Autos bauen, Impfstoffe gegen ansteckende Krankheiten herstellen, Schweine zerlegen, Vermögen für andere vermehren (oder vernichten) oder Podcast-Apps erfinden. Darunter gibt es, wie immer im Leben, pfiffige und weniger smarte Leute, es gibt charakterlich stabile und moralisch fragwürdige Gestalten. Und es gibt solche, die aufgrund eigener kreativer Leistung reich geworden sind, während anderen das unternehmerische Erbe in den Schoß gefallen ist. Die einen wollen vor allem viel Geld machen, die anderen wollen auch Gutes tun für die Allgemeinheit. Aber eines eint sie alle als Kapitalisten: Sie ärgern sich über die Konkurrenz, weil die Wettbewerber ihren geschäftlichen Erfolg und ihren Ruhm schmälern könnten. Niemand mag den Wettbewerb so wenig wie die Kapitalisten, noch nicht einmal die Sozialisten, obwohl man es eigentlich nur denen nachsagt. Weil die Kapitalisten den Wettbewerb nicht mögen, trachten sie danach ihn zu unterlaufen: Sie wollen Monopolisten werden oder, wenn sie das nicht schaffen, schmieden sie Kartelle und verständigen sich mit den Konkurrenten über den Preis. Gerne verbünden sie sich als starke Lobbymacht, um dem Staat Subventionen abzupressen oder um sich – weil systemrelevant (»too big to fail«) – vom Staat mit Steuergeld retten zu lassen. Wenn drei oder vier Kapitalisten zusammenhocken, dauert es nicht lange, bis sie sich gegen die Allgemeinheit verschwören, wusste der schottische Aufklärer Adam Smith.

    Das egoistische Verhalten der Kapitalisten ist systemisch, es ist kein moralischer Makel. Betrug und Bilanzfälschung hingegen (wie offenbar im Fall Wirecard) oder Ausbeutung der Arbeiter bis an die Grenze des Erlaubten (wie offenbar im Fall Tönnies) ist ein Fall von Recht und Moral. Der Staat ist dazu da, dem Egoismus der Kapitalisten (dem moralisch einwandfreien und erst recht dem moralisch verwerflichen) Grenzen zu setzen – im Interesse des Marktes: Die »sichtbare Hand« des Staats und die »unsichtbare Hand« des Marktes gehören zusammen. Denn der Markt lebt von Vertrauen, kommt aber ohne Kontrolle nicht aus. Der Staat muss die Kapitalisten so regulieren, dass der Wettbewerb ungehindert funktioniert und sie möglichst wenig Schlimmes anrichten können. Auch das wussten schon die Alt-Liberalen der europäischen Aufklärung. Nach Adam Ferguson (1723–1816) ist die Marktwirtschaft jenes Arrangement, worin selbst schlechte Leute wenig Schaden stiften können (»under which bad men can do least harm«). Oder härter gesagt: Im Sozialismus können Menschen ein ganzes Volk in Armut und Unfreiheit führen (Venezuela, Nordkorea, DDR), im Kapitalismus versagen »bloß« einzelne Akteure.

    Kontrollversagen ist kein Marktversagen

    Dabei gibt es freilich gute und weniger gute Regulierungen. Der Fall Tönnies verlangt striktere Auflagen für Arbeitsschutz und Bezahlung. Mindestpreise für Fleisch oder das Verbot von Werkverträgen verlangt der Fall nicht. Das würde weder die Arbeitsbedingungen noch die Qualität des Schweinefleischs verbessern. Und, nebenbei bemerkt, ärmeren Menschen das Essen zu verteuern, klingt nicht besonders sozial.

    Der Fall Wirecard ist nicht nur ein Versagen gieriger, womöglich krimineller Unternehmer und blauäugiger, womöglich sogar konspirierender Bilanzprüfer. Er ist auch Versagen des Staates, der seiner Kontrollpflicht gerade nicht nachgekommen ist: Weder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin – eine Staatsbehörde wie das Robert Koch Institut – noch die vom Staat beauftragte »Bilanzpolizei« (»Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung«) haben ihre Arbeit gut gemacht. Das Versagen der staatlichen Regulierung von Kapitalisten ist etwas prinzipiell anderes als das Versagen des Kapitalismus.

    Warum aber soll man den Kapitalismus gegen die Kapitalisten verteidigen? Noch einmal: Weil der Kapitalismus das beste und freieste Wirtschaftssystem ist, das wir kennen. Wer sein Kapital so einsetzt, dass es für ihn den höchsten Ertrag bringt, steigert das Volkseinkommen. Markt und Wettbewerb kanalisieren das einzelwirtschaftliche Gewinnstreben in die Richtung des allgemeinen Nutzens. Der Wohlstand der Nationen wächst durch Arbeitsteilung, Spezialisierung und Globalisierung. Liberale sind deshalb »pro market«, aber nicht »pro business«, dafür ist der BDI da.

    Man kann das alles nachlesen in einem schönen, 2003 erschienenen Buch der beiden Chicago-Ökonomen Raghuram Rajan und Luigi Zingales: Saving Capitalism from the Capitalists. Unter allen Ratschlägen der beiden Ökonomen zur Rettung des Kapitalismus gefällt mir der letzte am besten: Erzieht die Öffentlichkeit dazu, den Segen freier Märkte besser zu verstehen. Damit der Unterschied zwischen staatlicher Regulierung (gut) und staatlicher Intervention (schlecht) sich herumspricht und die Einsicht, dass die Interessen der Kapitalisten häufig nicht im Interesse des Kapitalismus sind.

    Rainer Hank