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  • 05. Mai 2023
    Rock your Life

    Aus denen wird noch Großes werden Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie sich Chancengleichheit verbessern lässt

    Der »Zufall der Geburt« ist das Ungerechteste, was einem im Leben zustoßen kann. Seine Eltern kann sich bekanntlich keiner aussuchen. In welchem Land ich geboren wurde, in welcher Zeit, in welcher Schicht, in welchen familiären Verhältnissen – nichts davon hängt von mir ab. Fast könnte man meinen, der Zufall der Geburt sei noch unberechenbarer als der des Todes. Zwar kennt auch niemand den Zeitpunkt seines Todes: Albert Camus nannte den tödlichen Autounfall das Absurdeste, was einem im Leben stoßen könnte, und kam selbst im Alter von nur 46 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Ob ich mich allerdings gesund ernähre, mich bewege, geistig rege bleibe, auf all das kann ich Einfluss nehmen, was wiederum Einfluss hat auf die Chance eines langen Lebens. Demgegenüber ist die Geburt pures Schicksal – jenseits jeglicher Einflussmöglichkeiten dessen, der gerade auf die Welt kommt.

    Wären die Startchancen für alle gleich, wäre das kein Problem. Jeder wäre frei, das Beste aus seinem Leben zu machen. Doch so ist es bekanntlich nicht. Lebenschancen und Lebenserfolg hängen in hohem Maße von zufälligen Faktoren ab. Etwa dem Einkommen der Eltern, ihrem Bildungsgrad, ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft und der Frage, wie intakt die Familie ist. Ludger Wößmann, einer der führenden Bildungsökonomen in Deutschland, hat dazu gerade schockierende Forschungsergebnisse präsentiert. So liegt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei 21,5 Prozent, wenn ein Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel (unter 2600 Euro) und mit Migrationshintergrund aufwächst. Im Gegensatz dazu liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 80,3 Prozent, wenn das Kind mit zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund aufwächst.

    Nicht jeder muss aufs Gymnasium

    Ich höre die Einwände: Muss doch nicht jeder und jede auf das Gymnasium! Man kann auch glücklich und reich werden ohne höhere Schul- oder Universitätsbildung! Besser ein erfolgreicher Handwerker als ein verarmter Soziologe! Das ist natürlich alles richtig. Doch darum geht es nicht. Zutiefst ungerecht ist, dass der Besuch des Gymnasiums leider nicht Ergebnis freier Wahl ist, sondern abhängt vom sozialen und familiären Umfeld. Es ist dann zumindest statistisch »vorbestimmt«, ob ein Kind eine höhere Schule besuchen wird oder nicht. Interessanterweise ist der Bildungsstand der Eltern wichtiger als die Frage, ob es einen Migrationshintergrund gibt. Das ärmste Migrantenkind mit zwei Abiturienten als Eltern hat bessere Chancen (47,2 Prozent) als ein Kind reicher Eltern (über 5500 Euro) ohne Abi (39,7 Prozent). Das zumindest ist ein positives Resultat für die Frage der Integrations- und Assimilationsfähigkeit einer Gesellschaft und die Chancen auf Bildungsaufstieg für Einwanderer.

    Bildung ist der Grundstein dafür, dass Menschen erfolgreich am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und zum Gemeinwohl beitragen können. Und Bildung bringt ein höheres Einkommen: Nichtakademiker erzielen ein durchschnittliches Lebenseinkommen von 1,8 Millionen Euro. Akademiker mit Master-Abschluss kommen auf 2,9 Millionen Euro, erhalten mithin einen Bildungszuschlag von 1,1 Millionen Euro. Soziale Durchlässigkeit und die Chance auf sozialen Aufstieg unabhängig vom Herkommen sind wichtig für die breite Akzeptanz einer Gesellschaftsordnung. Auch ökonomisch ist es nicht sehr effizient, wenn das Begabungspotential von Bürgern sich nicht entfalten kann: Das entzieht der Gesellschaft nicht nur Wachstum, sondern auch Kreativität und Dynamik.

    Was tun, wenn man nicht einfach jammern will über die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit der Welt? Mehr Geld für Bildung ist die Standardantwort von Bildungspolitikern. Weil Politikern eben immer nur »mehr Geld« einfällt, wenn ihnen nichts einfällt, sie aber den Wahlbürgern ihre eigene Bedeutsamkeit beweisen wollen. Dagegen skeptisch machen sollte einen allein schon die Tatsache, dass die öffentlichen Ausgaben für Bildung seit Jahren kontinuierlich steigen: Im Jahr 2020 haben Bund und Ländern insgesamt 241 Millionen Euro für allgemein- und berufsbildende Schulen ausgeben, eine Steigerung um 40 Prozent. Doch die Ungleichheit der Bildungschancen hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig.

    Ein überzeugendes Mentoring-Projekt

    Es liegt nahe, nach Alternativen zu suchen, die nichts oder wenig kosten, dafür aber mehr taugen. Das Mentoring-Projekt »Rock Your Life« wäre so eine Alternative. Es wurde im Jahr 2008 von drei engagierten Studenten in Friedrichshafen am Bodensee gegründet. Jugendliche aus benachteiligten Familien in problematischen Stadtvierteln sollten ganz praktisch unterstützt werden. Jedem Schüler wird ein Student als Mentor an die Seite gestellt. Die Mentoren machen das unentgeltlich. Den Kern des Projekts bilden individuelle Treffen der Mentoren mit ihren jeweiligen Mentees in einem rund zweiwöchigen Rhythmus. Allein dass sich die Studenten Zeit für sie nehmen, stärkt das Selbstwertgefühl der Jugendlichen. Oft treffen sich die Mentoring-Paare einfach zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten, gehen ins Kino oder in den Zoo, sprechen über den Alltag und die Zukunft.
    Der Clou von »Rock Your Life« besteht meines Erachtens darin, dass das Projekt schulischen Erfolg verbessern will durch Aktivitäten außerhalb der Schule. Lehrer denken erwartbar immer nur an Schule, wenn sie Schülern helfen wollen. Dass das Leben nach und vor der Schule dafür womöglich wichtiger ist, ist eine naheliegende, gleichwohl relativ neue Einsicht, die sich nicht zuletzt während Corona zeigte: Schulische Leistungen wurden schlechter, weil der Lockdown das außerschulische Leben zum Erliegen brachte.

    Die Bildungsökonomen haben »Rock Your Life« methodisch anspruchsvoll (und mit Kontrollgruppen ohne Mentoren) evaluiert. Und siehe da: Das Projekt liefert tolle Ergebnisse. Bei den Jugendlichen aus stark benachteiligten Familien sind die Ergebnisse besonders ermutigend. So haben sich die Schulnoten in Mathe durch die Teilnahme am Mentoring im Durchschnitt um 0,4 Notenpunkte verbessert. Zudem steigt das Maß der Geduld dieser Jugendlichen. Geduld ist deshalb sehr wichtig, weil sie Zukunftsorientierung der Menschen misst anhand ihrer Bereitschaft, Belohnungen auf die Zukunft zu verschieben, Eigenschaften, die für den zukünftigen Erfolg und die Einkommenserwartung entscheidend sind.

    Ich finde dieses Rock-Your-Life-Projekt wirklich faszinierend. Im Übrigen wurde aus der spontanen Initiative dieser Studenten ein Startup, das sich inzwischen zu einem veritablen internationalen Sozialkonzern gemausert hat. Es ist in über 50 europäischen Städten als Franchise-Unternehmen aktiv; zehntausend Studenten haben sich daran beteiligt. Anschauen kann man sich das alles hier.

    Rainer Hank