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  • 17. Mai 2024
    Rentner-Gang

    alt und gesund. Foto unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Langlebigkeit ein Segen und kein Fluch ist

    »Struldbruggs« heißen in Jonathan Swifts 1726 erschienenen Roman jene Gestalten, denen Gulliver während seiner dritten Reise auf einer pazifischen Insel begegnet. Was sie von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Struldbruggs können nicht sterben.

    Gulliver ist beeindruckt von diesen Unsterblichen. Doch das ändert sich, nachdem er mit der Realität konfrontiert wird: das ewige Alter ist der reine Horror. Vollkommen erblindet, die Haare fallen ihnen aus – und auch ansonsten bleibt ihnen kein Zipperlein erspart. Ihr Siechtum wird für immer nur immer schlimmer. Alternde Unsterbliche sind sie, kein erfüllter Menschheitstraum, sondern eine erbärmliche Existenz.

    Oskar Wildes Novelle »Das Leben des Dorian Gray«, erschienen 1890, ist die Gegenerzählung zu Gullivers Reisen. Die Struldbruggs leben ewig, aber sie leiden seit dem 60. Geburtstag an Altersgebrechlichkeit. Dorian Gray muss sterben, aber ohne dass er gealtert wäre. Mit Hilfe eines Faustischen Paktes bringt er sein Selbstbildnis dazu zu altern, während er selbst zeitlebens ein junger und schöner Mann sein wird. Er bleibt immer jung – und dann stirbt er. Die Struldbruggs altern – und sterben nie.
    Dorian Gray ist das Ideal eines Schönheits- und Jugendlichkeitskultes, der auch unserer Zeit nicht unbekannt ist. Freilich hat der Deal seinen Preis: Dorian Gray unterliegt dem Trugschluss, der Sinn und Zweck eines Lebens erschöpfe sich in Jugend, Schönheit und Hedonismus – und Altern sei ausschließlich der Verlust jugendlicher Vitalität und nicht auch ein Gewinn an Erfahrung und Weisheit. Lang leben, aber jung sterben, so heißt das Ideal des Vitalitätskultes bis heute – Abnehmspritze inklusive.

    Verkörpert Dorian Gray die verführerische Utopie ewiger Jugendlichkeit, so erleiden die Struldbruggs die ins Extrem getriebene Dystopie unserer alternden Gesellschaft. »Nichts für Feiglinge«, wie der Schauspieler Joachim Fuchsberger wusste, sondern Leiden, Gebrechlichkeit und langes Siechtum. Man braucht sich nur die barocken Kirchenkantaten anzuhören: Sie sind geprägt von der tiefen Sehnsucht der gläubigen Menschen, das Jammertal hienieden so schnell wie möglich zu verlassen. »Ich kann getrost im Tode sein«, heißt es in einer Telemann-Arie.

    Dem ausgebauten Wohlfahrtsstaat unserer Tage sind die Alten besonders lästig: Sie belasten Kranken- Renten- und Pflegekassen, schmälern das Einkommen der Jüngeren, kosten Wachstum und Wohlstand. Und dann wissen diese lästigen Alten auch noch immer alles besser.

    Wir leben länger und gesünder

    Alles falsch, sagt Andre J. Scott, Ökonomieprofessor an der London Business School. Er hat gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel »The Longevity Imperative«. Tatsächlich leben wir heute in der besten aller Welten, findet Scott. Und legt dafür Beweise vor. Die Erfolge des Kapitalismus, der modernen Medizin und der Ernährungswissenschaft haben die angenehme Folge, dass wir nicht nur immer länger leben (im Schnitt gibt es in jedem Jahrzehnt zwei bis drei Jahre mehr Leben zusätzlich), sondern auch immer länger fit bleiben. Die Lebenserwartung der Menschen betrug um 1820 etwa 28 bis 35 Jahren. Heute können wir im Schnitt in den Industrieländern auf mehr als 80 Jahre hoffen. Die meiste Lebenszeit verbringen wir in guter Verfassung, lediglich unmittelbar vor dem Tod wird es für den Betroffenen hart und für das Gesundheitssystem teuer; so erklärt es die Theorie der Morbiditätskompression, die postuliert, dass die Perioden, die Menschen im Zustand von chronischer Krankheit und Behinderung verbringen, über die Zeit abnehmen. Wir gewinnen also nicht nur einfach zusätzliche Lebenszeit (wie bei den Struldbruggs), sondern auch vitale Lebenszeit (wie bei Dorian Gray).

    Wenn das alles so stimmt, dann ist es höchste Zeit für eine Umschreibung des gängigen Narrativs der »alternden Gesellschaft«, das häufig in einem Zug mit der Klimakatastrophe und dem Artensterben genannt wird – dem Ende des Anthropozäns eben. Wer Altern lediglich in Begriffen des Niedergangs, des Verlusts an Produktivität und Kreativität, der ökonomischen Kosten beschreibt, liegt falsch. Womöglich wäre es klug, die Rede von der »alternden Gesellschaft« ganz aus dem Verkehr zu ziehen und mit einem positiven Narrativ zu überschreiben. Im Englischen bietet sich dafür das Wort »Longevity« an. Die deutsche Übersetzung »Langlebigkeit« ist nicht ganz so schön, klingt nach Haltbarkeits- oder Verfallsdatum und läuft damit genau in jene Falle der Niedergangsmetaphorik, der sie entkommen wollte.

    Kürzlich hat mich ein journalistisches Branchenmagazin zusammen mit weiteren 33 Kolleginnen und Kollegen, alle über 66 Jahren alt, einer Rentner-Gang zugewiesen und getitelt: »Warum sie nicht aufhören und ihr Alter von Vorteil ist.« Das schmeichelt, auch wenn »Rentner« immer noch ein wenig nach Seniorenteller klingt.

    »Von nichts kommt nichts.«

    Indes, »von Nichts kommt nichts«, hätte mein Vater gesagt, der – gezeichnet von Krieg und Gefangenschaft – nur 75 Jahre alt wurde. Andrew J. Scott postuliert einen Imperativ der Langlebigkeit. Dazu zählen bekannte Ratschläge wie die Aufforderung zur Bewahrung geistiger und körperlicher Beweglichkeit, einer einigermaßen ausgewogenen Ernährung und so weiter. Der Lohn dafür ist ein sich selbst verstärkender »Circulus virtuosus«: Wer sich besser fühlt, will länger leben. Und wer länger leben will, der achtet auf ein gesundes Leben. Scott plädiert dafür, den festen Rhythmus der Lebensphasen – Ausbildung, Arbeit, Altersruhestand – aufzugeben zugunsten eines permanenten Wechsels von Muße, Arbeit und Weiterbildung über den gesamten Lebenszyklus (und natürlich inklusive Abschaffung des fixen Renteneintrittsalters). Die Gesellschaft als Ganze könnte eine demographische Dividende kassieren. Langlebigkeit als Wachstumsmotor statt als demographische Sklerose. Drei bis vier Prozent mehr BIP-Wachstum im Jahr seien drin, heißt es. So etwas hören wir Angehörige der Rentner-Gang gerne. Und den Wirtschaftsminister dürfte es auch freuen: Die Alten werden rekrutiert als Reservearmee gegen die säkulare Wachstumsschwäche der Industriegesellschaften.

    Molekularbiologen forschen längst an gentechnischen Verfahren zur Herstellung von Unsterblichkeit. Mit Fruchtfliegen, Würmern, Mäusen und Hefepilzen sei man schon ziemlich weit gekommen, lese ich. Ich weiß nicht recht, ob ich gerne unsterblich wäre. So etwas hat die Schlange im Paradies den ersten Menschen auch schon versprochen (»eritis sicut deus«); es ist ihnen bekanntlich nicht gut bekommen. Auch das Rezept der Alternsforscher, auf ein Drittel des täglichen Kalorienbedarfs zu verzichten, um die Lebenszeit zu verlängern und altersbedingte Krankheiten zu vermeiden, schmeckt mir nicht wirklich. Lebensverlängerung, die auf Dauer-Verzicht beruht? Nein danke! Dafür bin ich zu sehr Hedonist.

    Rainer Hank