Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen26. Oktober 2022
PrinzipienreitereiEin Versuch, Christian Lindner zu verstehen
Wenn eine Megakrise drohe, könne »Prinzipienreiterei« nicht die Lösung für ein Land sein, ließ Markus Söder unlängst verlauten. Ausgerechnet Söder. Das einzige Prinzip, dass der bayerische Ministerpräsident kennt, ist ein gefühlssicherer Populismus, der sich aus einem wetterwendigen Pragmatismus speist. In Bayern regiert das Prinzip der Prinzipienlosigkeit.
Konkret ging es Söder um die Schuldenbremse und um die FDP, deren Vorsitzenden Christian Lindner er als einen starrsinnigen Prinzipienreiter denunziert. Was der Franke unterschlägt: Das Verbot, den Staat mit neuen Schulden zu finanzieren, ist nicht einfach der Starrsinn eines Dogmatikers. Sondern steht im Artikel 109 des deutschen Grundgesetzes, hat also Verfassungsrang. Offenbar gilt den Pragmatikern die Verfassung nur für langweilige Zeiten, immer dann, wenn gerade nichts los ist. Wenn aber Krise ist, heißt es: Not kennt kein Gebot. Jetzt machen wir Politik nach Tageslosung, will sagen: nach der Lautstärke, mit der unterschiedliche Wählergruppen ihr finanziellen Entlastungsforderungen vorbringen.
Was sind Prinzipien wert, wenn sie ausgerechnet in der Krise nicht mehr gelten? Statt Prinzipienreiter zu diskreditieren, müsste man sie hofieren: Gerade jetzt soll man für seine Prinzipien kämpfen. Dass die Schuldenbremse es in die Verfassung geschafft hat, soll ja gerade verhindern, dass man sie bei jedem politischen Unwetter kassieren kann. Prinzipien, so der Duden, sind Regeln, die als Richtschnur des Handelns dienen. Das nimmt dem Handeln seine Beliebigkeit, und macht Kritik allererst möglich. Selbstverständlich kann man Prinzipien hinterfragen, ablehnen oder durch bessere Prinzipien ersetzen. Allemal haben wir sie nötig; ohne Prinzipien verdämmern alle Maßstäbe.
Deshalb singe ich hier das Loblied der Prinzipienreiterei, durchgeführt und orchestriert am Beispiel der FDP in Zeiten der Krise.
Was sind die Grundsätze des Liberalismus? Die FDP hat den Vorteil, dass sie sich auf die Tradition der europäischen Aufklärung als ihr normatives Fundament berufen kann. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die Freiheit des Individuums. Der Staat ist eine davon abgeleitete Institution, deren erstes, einziges und letztes Ziel es ist, die Freiheit seiner Bürger gegen Feinde von außen und innen zu schützen, dafür zu sorgen, dass Minderheiten nicht von Mehrheiten unterdrückt werden, dass Regeln des Wettbewerbs fair sind und den besten Argumenten, den kreativsten Künsten und den originellsten Geschäftsideen zum Erfolg verhelfen. Marktwirtschaft ist, anders als staatliche Plan- oder Kriegswirtschaft, ein Arrangement, das die Freiheit der Bürger im höchsten Maße zur Entfaltung bringt. Die großen menschheitsbeglückenden Utopien scheut der Liberalismus ebenso wie die großen apokalyptischen Dystopien. Scheitern ist erlaubt und berechtigt zum Wiederaufstehen. Der Liberalismus ist universal. Alles Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht, um mit Marx und Engels zu sprechen.
Liberale Prinzipien
Freiheit ist ein Recht, aber auch eine Pflicht: Jeder Bürger hat zunächst einmal selbst für sich Verantwortung zu tragen. Nur dann, wenn er sich selbst nicht helfen kann, hat er Anspruch auf Hilfe vom Staat. Man nennt dies Subsidiarität. Die Schuldenbremse lässt sich gut aus diesem Prinzip ableiten, insofern eine Gesellschaft (genauso wie der Einzelne) ihre finanziellen Wünsche auf eigene und nicht auf die Rechnung künftiger Generationen nehmen muss.
Ungefähr so könnte man die Prinzipien grob zusammenfassen, auf denen die FDP reiten müsste, will sie ihrem Programm gerecht werden. Tut sie es auch? Es gehört zur Tragik der Liberalen, dass sie häufig der Privilegierung einzelner Gruppen den Vorrang gaben vor den liberalen Prinzipen, die universal sind und nicht ständisch. Hoteliers oder Autofahrer finanziell zu entlasten, nennen wir Klientelpolitik, mithin das Gegenteil liberaler Prinzipienreiterei.
Und wie steht es nun mit der Schuldenbremse? Christian Lindner, der FDP-Finanzminister, verschuldet sich (und uns) derzeit unter anderem mit 200 Milliarden Euro zur Energiepreisabrüstung und100 Milliarden zur militärischen Aufrüstung. Dafür errichtet er wenig transparente zweckgebundene Schattenhaushalte, um, wie er sagt, die Begehrlichkeiten seiner Kabinettskollegen in Schranken zu weisen. Nicht Prinzipienreiterei müsste man Christian Lindner vorwerfen, sondern, ganz im Gegenteil, dass er es mit seinen Prinzipien nicht so genau nimmt. Er rechtfertigt den Regelbruch als notwendig dafür, künftig die Prinzipien einhalten zu können – eine rhetorische, aber keine prinzipientreue Meisterleistung.
Die Schuldenbremse ist im Übrigen nicht nur ein abstraktes Prinzip und nicht nur zum Schutz künftiger Generationen geboten, sondern aus ökonomischen Gründen zur Bekämpfung der Inflation dringend erforderlich: Die Zinspolitik der Notenbanken verliert ihre Wirkung, wenn sie durch eine aggressive Fiskalpolitik (»Entlasteritis«) konterkariert wird. Inflationsbekämpfung war in der Geschichte immer nur dann erfolgreich, wenn Geld- und Fiskalpolitik als Tandem aktiv wurde. Ausgabenfreudiger Pragmatismus hingegen führt ins Verderben.
Die Lindner-FDP ist halbherzig
Ihre Prinzipien verteidigt die FDP auch in der Energiepolitik nur halbherzig. Staatliche Eingriffe in den Markt (Atommeiler abschalten, Verbrenner verbieten, Gaspreise deckeln) müssten ihr eigentlich ein Horror sein. Atomstrom ist klimafreundlich, muss nicht bei Schurken gekauft werden und unterliegt bei der Produktion höchsten Sicherheitsvorschriften. Was spricht dagegen? Den mit Kanzlermachtwort durchgesetzten »Streckbetrieb« eines dritten AKWs schon als liberalen Erfolg zu feiern, ist arg bescheiden. Wenigstens der wackere Wolfgang K. lässt sich damit nicht abspeisen.
Kurzum: Eine Schärfung ihrer Prinzipien würde der FDP in ihrer derzeitigen prekären Lage guttun. Es waren gerade die jungen Wähler, die der liberalen Partei ihren Einsatz für die Freiheit in Zeiten der Lockdown-Pandemie mit ihrer Stimme entlohnt haben. Sich auf Prinzipienreiterei zu berufen, könnte die FDP auch davor schützen, ständig mit ihrer »staatspolitischen Verantwortung« herumwedeln zu müssen. Die Berufung auf »staatspolitische Verantwortung« ist anmaßend und nichtssagend zugleich. Programmatische Prinzipienreiterei ist ehrlicher.
Rainer Hank