Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 18. August 2020
    Nützliche Illegalität

    Pokerspiel Foto: pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum schummeln Firmen nicht noch viel mehr?

    Als wir neulich im Kreis von Freunden mal wieder über den Wirecard-Skandal plauderten und uns erregten, warum niemand aufgefallen sein will, dass Milliardenbeträge auf asiatischen Konten nicht gedeckt waren – das hätte ja selbst ich gemerkt! -, gab einer in der Runde, Partner einer internationalen Kanzlei, sein Insiderwissen zum Besten: Der Mann hat lange in Russland und in arabischen Staaten gearbeitet und wurde dabei sozusagen auf natürliche Weise zum Experten für Korruption und Bilanzfälschung.

    Korruption, so unser Insider, darf man sich nicht wie bei Karl May vorstellen, wo gebündelte Scheine als Bakschisch den Besitzer wechseln. Bilanzen, das wisse man doch seit dem Enron-Skandal in Amerika, fälsche man am besten durch die Errichtung sogenannter »Special Purpose Entities«, Zweckgesellschaften, bei denen die Leistung und Verschwiegenheit der Geschäftsführer (abgesegnet durch die Wirtschaftsprüfer) »ganz legal« mit Millionen Dollar vergütet werden. Und Schmiergeld, etwa bei großen staatlichen Bauaufträgen, verberge sich in der Regel hinter Rechnungen für Teilgewerke, bei denen von außen schwer zu durchschauen sei, ob eine Leistung wirklich erbracht wurde. Zur Erheiterung der Runde gab unser Anwalt dann noch eine kleine Geschichte zum Besten, wie er einmal sicher gewesen sei, den Schurken auf die Schliche zu kommen, nachdem sich auf der Rechnung für eine Großanlage in der Wüste auch die Lieferung mehrere Kubikmeter Sand gefunden habe. »Jetzt haben wir sie«, so unser Erzähler: Wer Sand in die Wüste liefern lasse, habe sich nun wirklich verraten. Doch leider war dieser Teil der Rechnung korrekt: Wüstensand ist zur Herstellung von Beton nämlich komplett ungeeignet.

    Wenn es also derart kompliziert ist, Regelverstöße dingfest zu machen, muss man sich fragen, warum in unserer Welt nicht viel mehr getrickst, betrogen und bestochen wird und warum die Grauzone zwischen legal, gerade noch korrekt und illegal nicht viel mehr ausgetestet wird. Die beruhigende Antwort könnte lauten: Weil keine Gesellschaft funktionieren würde, gäbe es keinen festen Grundbestand an Werten darüber, was man tut und was man nicht tut. Moral, die Befolgung von Regeln, hätte dann Priorität trotz augenscheinlicher Rationalität eines wenig riskanten Regelverstoßes. Die beunruhigende Antwort dagegen heißt: Woher wissen wir denn, dass es nicht viel mehr Illegalität gibt? Könnte Regelverstoß nicht in vielen Fällen die Regel sein, gerade weil so wenig aufgedeckt wird?

    Tatsächlich spricht einiges für die skeptische Alternative eines großen Feldes grauer Zonen. Bevor man gleich an die großen Skandale denkt, kommen einem all die vielen kleinen Steuergestalter in den Sinn. Wenige werden sich bewusst vornehmen, die Gemeinschaft, den Staat, bewusst zu betrügen. »Ich hatte einfach so viel zu tun und vergessen, mich um alle meine Einkünfte zu kümmern«, so lautete eine gängige Entschuldigung, die Regeltreue und Steuerhinterziehung psychologisch unter einen Hut bringt, wenngleich sie auf sehr wackligen Beinen steht.

    Regelmäßige Regelabweichung

    Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl nennt das – mit einem schönen Begriff Niklas Luhmanns – »brauchbare Illegalität«. Damit wird nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch eine Praxis, die formale Erwartungen in Organisationen verletzt, gegen Compliance-Grundsätze verstößt– und gleichwohl, ausgesprochen oder unausgesprochen von oben geduldet, wenn nicht sogar gefördert wird: denn es ist ja für die Organisation nützlich. Es geht bei »brauchbarer Illegalität« etwa um die Missachtung von Arbeitsschutz- oder Arbeitszeitgesetzen (siehe die Debatte um den Fleischfabrikanten Tönnies), das Überschreiten staatlich vorgegebener Ruhezeiten bei LKW-Fahrern oder die Bestechung von Kunden, um einen Auftrag zu ergattern. Kühl ist überzeugt: Regeln werden in Organisationen regelmäßig gebrochen. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Firmenangehörige informelle Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen.

    Der Klassiker solch«brauchbarer Illegalität« spielt im Amerika der Nachkriegszeit: Bei der Montage von Tragflächen für Kampfflugzeuge müssen Schrauben in vormontierte Muttern eingeführt werden. Durch Ungenauigkeiten im Fertigungsprozess gelingt das nicht immer reibungslos. Warum also keinen Gewindebohrer einsetzen, um ein wenig nachzuhelfen? Das ist zwar strikt verboten, weil es dazu führen kann, dass sich die Schrauben leichter lösen – im schlimmsten Fall wäre der Absturz eines Flugzeugs zu befürchten. Trotz des Verbots wird der Bohrer eingesetzt. Jeder Arbeiter hat Zugang zu einem, die Hälfte von ihnen besitzt sogar ein eigenes Exemplar, was einer Status-Aufwertung gleichkommt. Auch die hauseigene Qualitätssicherung duldet den Verstoß. Warum? Weil der Verstoß es möglich macht, die strengen Zeitvorgaben zu erfüllen. Das einzige Problem? Die Kontrolleure der Luftwaffe (intern nennt man sie »Gestapo«): Tauchen sie auf, warnen die Arbeiter einander und lassen die Bohrer so lange verschwinden, bis auch die Kontrolleure wieder verschwunden sind.
    Solche Verstöße sind nützlich und funktional im Sinne des Unternehmenszwecks – sie verkürzen Abläufe, sparen Geld. Oder anders: Man handelt zwar gesetzeswidrig, aber für einen »guten Zweck« (jedenfalls solange die unerlaubte Praxis nicht auffliegt). Die meisten Kollegen wissen davon, ahnen dumpf, dulden stillschweigend. Anders als im Märchen gibt es keinen eindeutigen Schurken, den man hinterher verantwortlich machen könnte. Man will das Unrecht nicht sehen, würde es noch nicht einmal als ein solches benennen.

    Audi-Chef Stadler vor Gericht

    Das Muster kommt uns bekannt vor: Denken wir an die Skandale bei den Banken vor und nach der Finanzkrise, wo Zinsen manipuliert, Steuern in großem Stil unterschlagen und den Kunden zu hohe Gebühren abgeknöpft wurden. Das prominenteste Beispiel aber ist der VW-Skandal, wo eine manipulative Software in den Autos verbaut wurde, um den vorschriftsmäßigen Ausstoß von Stickoxiden zu vorzutäuschen. Bald wird dieser Großversuch nützlicher Illegalität in einem Weltkonzern öffentlich zu besichtigen sein: Im September beginnt der erste deutsche Strafprozess im VW-Skandal gegen den ehemaligen Audi-Chef Hubert Stadler, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, die Softwaremanipulationen nicht gestoppt zu haben, als er davon erfuhr. Eine Anklage gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn ist dagegen bis heute (noch) nicht vom Gericht in Braunschweig zugelassen worden.

    Werden solche Prozesse an der üblichen Praxis »nützlicher Illegalität« etwas ändern? Soziologe Kühl, dessen Buch »Brauchbare Illegalität«https://campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/brauchbare_illegalitaet-16237.html passend zum Stadler-Prozess im September erscheint, ist skeptisch. Für Skepsis spricht nicht nur das geringe Aufdeckungsrisiko und der große organisatorische Nutzen des Regelbruchs, sondern auch die ritualisierte Form der Aufarbeitung der Skandale nach dem Muster: Personalisierung (Schurken vorführen), Skandalisierung (Überbietungsberichterstattung), Moralisierung (»wie böse sind die Menschen«). Kenner und Organisationssoziologen wissen: Nichts verpufft schneller als die öffentliche Empörung.

    Rainer Hank