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  • 02. August 2024
    Nicht tot zu kriegen

    Zugehörigkeit Foto Pablo Reboliedo/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Ökonomen an die Religion glauben

    Süddeutschland war einmal ein katholisches Land. Von religiöser Pracht zeugen die barocken Klöster und Kirchen bis heute. Dazu gehörten geistliche Besitztümer mit Landwirtschaft, Handwerk und Industrie (Brauereien), die den frommen Eigentümern ein beachtliches Einkommen bescherten, was wiederum die Voraussetzung war, Bibliotheken zu unterhalten, Messen zu komponieren und Architekten oder Stuckateure aus der ganzen Welt beschäftigen.

    Das alles hatte sein jähes Ende im Jahr 1803, als die meisten geistlichen Fürstentümer durch den sogenannten Reichsdeputationshauptschluss säkularisiert wurden und die Besitztümer den weltlichen Territorialherren zugesprochen wurden als Entschädigung für die von Napoleon enteigneten linksrheinischen Gebiete. Profiteure in Süddeutschland waren zum Beispiel der Markgraf von Baden, der Kurfürst von Bayern oder der Herzog von Württemberg. Die katholische Kirche verlor ihre weltliche Macht. Mönche wurden arbeitslos, Wallfahrtsorte erlebten einen spirituellen und wirtschaftlichen Niedergang, von Klöstern abhängige Handwerker und Künstler fielen in Armut.

    Ein schwerer Schlag, von dem die katholische Kirche Deutschlands sich nicht wieder erholen würde, – sollte man denken. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts boomte die Religion. Neu gegründete oder wieder in Betrieb genommene Klöster engagierten sich in der Krankenpflege, in Altenheimen, der Seelsorge und der Schulbildung. Die Kirche fand neue Einnahmequellen (Internate zum Beispiel) als Kompensation für die enteigneten geistlichen Besitztümer. Zwischen 1850 und 1950 erlebte der deutsche Katholizismus eine seiner größten Blüten in der Kirchengeschichte.

    Zufall? Nein, so lese ich es in einem faszinierenden Buch des britischen Ökonomen Paul Seabright, der an der Universität Toulouse lehrt. »The Divine Economoy« heißt das Buch. Die These: Religionen sind nicht tot zu kriegen. Der Forscher schreibt sine ira et studio; er argumentiert weder als Religionskritiker noch als Anwalt der Kirchen, sondern strikt als Wirtschaftswissenschaftler.

    Religion funktioniert wie eine Plattform – nur besser

    Weder Säkularisation (die Enteignung der kirchlichen Machtbasis), noch Säkularisierung (die Entzauberung einer Welt mittels philosophischer Aufklärung und Naturwissenschaft) haben es geschafft, der Religion den Garaus zu machen. Das liegt, ökonomisch gesprochen, an der Innovations- und Anpassungsfähigkeit der Kirchen, die all jene übersehen, die Religion als ein archaisches Relikt betrachten. Der Blick auf Europa und die Missbrauchspraxis der christlichen Kirchen trübt zudem den Blick. Zwar erleben Katholizismus und Protestantismus in Europa (mit Ausnahme Polens) tatsächlich einen dramatischen Niedergang. Dieser wird indessen zahlenmäßig überkompensiert durch den Zulauf, den die katholische Kirche in Afrika erlebt und die Evangelikalen und Pfingstkirchen in Südamerika oder in China. Ganz zu schweigen von der Attraktivität, die der Islam zwischen Indonesien und dem Maghreb auf die Menschen ausübt oder der staatlich geförderte Hinduismus in Indien. Das religiöse Geschäftsmodell ist robust und resilient.
    Wie funktioniert der religiöse Markt? Seabright startet seine Studie mit der Geschichte von Grace, einer vierundzwanzigjährigen jungen Frau in Accra (Ghana). Sie verdient ihr Geld – täglich eineinhalb Dollar – mit dem Verkauf von Trinkwasser an einer Straßenkreuzung. Zehn Prozent davon (zuzüglich weiterer Spenden) führt Grace an ihre protestantische Gemeinde ab, was bedeutet, dass sie sich wichtige medizinische Behandlungen für ihr Tante nicht mehr leisten kann, mit der sie in einer kleinen Wohnung in einem Slum zusammenlebt. Der Pastor der Gemeinde ist ostentativ reich. Er fährt einen Mercedes und trägt einen Gürtel mit einem überdimensionierten Dollarzeichen.
    Grace ist weder hörig noch unemanzipiert, noch handelt sie irrational. Sie geht gerne in die Kirche. Dort trifft sie Gleichgesinnte, mit denen sie beten, singen, essen und reden kann. Sie teilen die gleichen Werte und Rituale. Grace hofft, dass sie irgendwann einmal in der Gemeinde den Mann fürs Leben finden wird. Dort fühlt sie sich sicher, keinem Hochstapler oder Halunken auf den Leim zu gehen. Dort weiß der Mann, dass es sich gehört, am Sonntagmorgen gutgekleidet und pünktlich beim Gottesdienst zu sein. Und dass man seine Frau und seine Kinder anständig behandelt.

    Die Geschichte klingt romantisch, verklärt aber nichts. Nüchtern beschreibt der Ökonom die Angebotsseite der Religion als eine »Plattform«, die Menschen zum gegenseitigen Nutzen zusammenbringt. Die Kirche erfüllt dieselbe Funktion wie Tinder, aber sie leistet zugleich mehr: geschaffen wird ein Raum sozialer Zugehörigkeit. Die Gläubigen sind nicht nur »Konsumenten« auf der Plattform, die vom kirchlichen Angebot profitieren. Sie sind aktiv an der Herstellung und Weitergabe dieses Angebots beteiligt. Und sie zahlen für ein Gut, zu dem nur die Mitglieder der Kirche Zugang haben.

    Theologie ist weniger wichtig

    Mich überzeugt diese ökonomische Beschreibung der Religion. Der Inhalt des Glaubens, gar die theologische Lehre, ist zweitrangig, häufig sogar eher ein »Marketingnachteil«. Zwar sagen 31 Prozent der amerikanischen Katholiken, sie glauben an die Lehre der »Transsubstantiation«. Doch niemand verlangt von ihnen, dass sie sagen können, dass und wie die Hostie sich im Drama der Heiligen Messe in den Leib Christi wandelt. Die Beschlüsse der Konzilien der alten Kirche über die knifflige Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist in der Trinität brauchen auch die meisten heutigen Theologen nicht mehr zu verstehen. Der Marketingnachteil wandelt sich gleichwohl in einen Vorteil der Zugehörigkeit und der Abgrenzung: Wir, die wir hier zusammenkommen, glauben Sachen, die unsre Umwelt nicht teilt. Viel überzeugender als theologische Glaubensinhalte sind ohnehin eher die packenden Erzählungen von Weihnachten, Exodus oder Kreuzigung. Zudem brauche es ein kirchliches Personal, das diese Erzählungen im Gottesdienst lebendig vorzutragen versteht.

    Lässt sich aus der politischen Ökonomie der Religionen eine Lehre ziehen, wie die christlichen Kirchen Europas wieder auf die Beine kommen? Eher nein. Die religiöse Plattform lebt mehr als die säkularen Plattformen vom Vertrauen der Nachfrager in das Personal der Plattform. Ist dieses erst einmal zerstört, kommt es nicht so schnell wieder zurück. Die enge politische und fiskalische Bindung der christlichen Kirchen an den deutschen Staat samt vieler Privilegien helfen auch nichts. Im Gegenteil. Durch den Staat gestützte, quasi monopolistische kirchliche Macht macht träge – wie alle geliehene Macht. Da geht es den hiesigen Kirchen nicht anders als dem von Uber attackierten Taxigewerbe. Mehr und nicht weniger Wettbewerb, eine radikale Trennung vom Staatskirchenrecht, wäre die Empfehlung des Ökonomen für die Rückgewinnung von kirchlicher Innovation. Wer glaubt, dass es so kommt, wird selig.

    Rainer Hank