Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen25. Juli 2022
Nachhilfe für die EZB IWas die Zentralbank tun müsste, aber nicht tut
Eine gute Bekannte, Strafverteidigerin in einer renommierten Berliner Kanzlei, gab mir einen Arbeitsauftrag mit auf den Weg: Sie habe nie verstanden, was die Zinsen der Zentralbank mit der Inflation zu tun hätten. Das möge ich ihr und allen, denen es ähnlich gehe, doch einmal erklären.
Früher, also vor ganz langer Zeit, hätte ein Wirtschaftsjournalist so eine Frage mit gehöriger Arroganz beantwortet: wer die Anfangsgründe der Geldpolitik nicht verstehe, sei es auch nicht wert, die FAZ zu lesen. Das geht heute nicht mehr: Die Leserin ist Königin, ihr Wunsch ist uns Befehl. Und seien wir ehrlich: Ist es nicht kontraintuitiv zu sagen, wenn Frau Lagarde die Zinsen der Eurozone um 0,25 Prozent anhebt, würden im Gegenzug bei unserem Bäcker die Brötchen nicht mehr teurer werden?
Bei einer Inflation nimmt die Kaufkraft des Geldes ab. Für meinen Stadtrucksack, der heute 100 Euro kostet, müsste ich bei fünf Prozent Inflation im nächsten Jahr 105 Euro zahlen; in fünf Jahren dann schon 128 Euro. An der Qualität des Rucksacks hat sich nichts verbessert. Empfänger von Löhnen, Renten oder Sozialleistungen haben das Nachsehen. Denn ihre Einkommen bleiben trotz Inflation (zunächst) gleich, was dazu führt, dass die Menschen sich von ihrem Geld weniger leisten können, obwohl sie mit ihrer Arbeit das Gleiche leisten. Inflation ist zutiefst ungerecht: Die Ersparnisse auf dem Konto schrumpfen, die Schulden auf der anderen Seite auch. Warum werden die Schuldner belohnt, die Sparer aber bestraft? Der ehemalige US-Präsident Gerald Ford nannte die Inflation den »public enemy number one«.
Lange Zeit spielte Inflation bei uns keine Rolle mehr. Das ändert sich jetzt: Die Menschen rechnen wieder mit der Inflation. Das ist rational und gefährlich zugleich: Liegt die Inflationserwartung bei, sagen wir, sechs Prozent, werden die Gewerkschaften acht Prozent mehr Lohn fordern, um wenigstens »real« zwei Prozent mehr im Geldbeutel zu haben. In Zeiten wie diesen, in denen Arbeitskräfte knapp sind, gibt es gute Chancen, dass sie sich durchsetzen. Das erhöht die Kosten der Unternehmen, die versuchen werden, diese Kosten auf die Preise ihrer Produkte zu überwälzen. So werden die Inflationserwartungen selbst zum Treiber der Inflation (»Lohn-Preisspirale«). Am besten ist es deshalb, wenn die Inflation öffentlich kein Thema ist; dann gibt es sie auch nicht. Einmal in der Welt, wird man sie hingegen schwer wieder los.
Stabile Preise sind das A und O
Was kann die Zentralbank tun, um die Preise zu stabilisieren? Sie kann zum Beispiel den Leitzins erhöhen. Das ist jener Zinssatz, zu dem sich die Banken bei der Zentralbank Geld leihen oder anlegen können, somit ein Preis für das Geld, das die Banken wiederum anderen zur Verfügung stellen können. Der Leitzins wiederum hat Auswirkungen auf die Bau-, Kredit- und Sparzinsen, also auf das Verhalten von Bürger und Unternehmen. Vereinfacht gesagt, beeinflussen die Zinsen die Kreditvergabe und das Sparverhalten. Steigen die Zinsen, wird es für die Unternehmen weniger attraktiv zu investieren, denn die Finanzierungskosten erhöhen sich. Für die Bürger lohnt es sich wieder, mehr zu sparen. Sie geben weniger Geld aus; für die Unternehmen wird es schwieriger, Preise zu erhöhen. Eine Zinserhöhung dämpft also auf der Nachfrage- und Angebotsseite die Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums. Das ist gewünscht, weil es die Inflation drosselt – im besten Fall wieder auf das Stabilitätsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Auf Null Prozent soll die Inflation nicht sinken (obwohl erst das im Wortsinn das Ende der Teuerung wäre). Doch die Statistik neigt zur Überschätzung der Preissteigerungen und auch die Gefahr einer Deflation wäre zu nah. Sinkende Preise können sich nämlich verselbständigen mit hohen wirtschaftlichen Kosten und begrenzten Einflussmöglichkeiten der Zentralbank.
Dürfen wir uns jetzt also endlich wieder auf Zinsen auf dem Sparkonto freuen, wie die Bild-Zeitung jubelt? Vorsicht! Dafür muss man sich den Unterschied zwischen Real- und Nominalzins vor Augen führen. In den letzten Jahren gab es null (oder gar leicht negative) Zinsen. Bei, sagen wir, einem Prozent Inflation schrumpft das Ersparte jährlich um ein Prozent. Sollte die EZB in diesem Jahr die Zinsen in zwei Schritten um insgesamt 0,5 Prozent anheben, und sollte die Teuerung 7,6 Prozent betragen (so die jüngste Prognose der EU-Kommission), so schrumpft unser Sparvermögen um 7,2 Prozent, also deutlich stärker als in den »schlimmen« Zeiten der Null-Zinspolitik.
Dann müsste die EZB also die Zinsen stärker erhöhen und hätte damit schon längst beginnen müssen. So ist es. Warum tut sie das nicht? Sie sagt, sie wolle die Konjunktur nicht abrupt abwürgen. Das Argument sollte man ihr allenfalls zur Hälfte durchgehen lassen. Der frühere Bundesbank-Präsident Jens Weidmann (schade, dass er demissioniert hat) hat in seinem Vortrag über »Die Ära der Unsicherheit«, den ich vergangene Woche erwähnt habe, die Gefahren einer allzu zögerlichen Geldpolitik beschrieben. Je länger die Geldpolitiker die Inflation laufen lassen, umso schlimmer wird die Wirtschaft später einbrechen: »Und die EZB läuft am Ende Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen«, so Weidmann.
Der Zusammenhalt der Eurozone geht die EZB nichts an
Die EZB hat die Inflation lange verschlafen. Sie fühlt sich nicht nur für die Geldwertstabilität zuständig, sondern auch für den Zusammenhalt der Eurozone (was sie nichts angeht). Würde sie die Zinsen stärker erhöhen, stiegen auch die Finanzierungskosten (die Renditen, sprich Schuldzinsen) der hochverschuldeten Staaten (Italien liegt derzeit bei rund 150 Prozent des Bruttosozialprodukts). Am Ende droht diesen Staaten die Zahlungsunfähigkeit, was rechts- und linkspopulistischen Parteien Aufwind gäbe. Aber ist es Aufgabe der EZB, demokratische Prozesse zu steuern? Ihr Mandat gibt das nicht her. Eigentlich müsste sie sich mit aller Gewalt gegen ihre Politisierung stemmen.
Umgekehrt ist es nicht Aufgabe des Staates, Maßnahmen gegen die Inflation zu ergreifen. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »konzertierte Aktion« ist nicht nur ein untaugliches, sondern auch ein überflüssiges Mittel. Stattdessen müsste der Kanzler all jene, die sich jetzt über die Teuerung empören, an die EZB-Chefin Christine Lagarde verweisen. Von der EZB muss Entlastung für die darbenden Bürger kommen, nicht von einer »konzertierten Aktion«. Wobei es der Regierung unbenommen ist, die sozialen Folgen der Inflation abzufedern, wenn sie meint, dies tun zu müssen. Gegen die Inflation selbst ist eine Regierung machtlos.
Noch Fragen zum Zusammenhang von Inflation und Zinsen, Frau Strafverteidigerin?Rainer Hank