Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. Mai 2019
Musik und KapitalismusÜber Geschäfte bei Tage und solche in der Nacht
Die sogenannten Abendmusiken in Lübeck gelten als älteste Konzertreihe der Welt. Sie gehen zurück auf Franz Tunder (1614 bis 1667), einen pausbäckigen Mann mit barocker Perücke, der seit 1641 als Organist an St. Marien wirkte, der Mutterkirche norddeutscher Backsteingotik – ein Gotteshaus, das jedem Vergleich mit den Kathedralen Frankreichs standhält. Tunder, so heißt es, habe die Chance erkannt, durch Konzerte eigens für die Kaufleute der Stadt sein Budget aufzubessern. Jeden Donnerstag spielte er vor Öffnung der Börse zum Vergnügen der Bürger auf seiner Orgel. Kirche und Börse grenzen aneinander. Da es damals noch keine öffentlichen Konzertsäle gab, war St. Marien in der Stadt der repräsentativste Raum zum Musizieren. Der Lübecker Kantor Caspar Ruetz hat ein Jahrhundert später folgendes berichtet: »Es soll die Bürgerschaft, ehe sie zur Börse gegangen, den löblichen Gebrauch gehabt haben, sich in St. Marien zu versammeln. Dort hat der Organist ihnen zur Zeit-Kürzung etwas auf der Orgel vorgespielet, um sich bei der Bürgerschaft beliebt zu machen. Von einigen reichen Leuten, die Liebhaber der Musik gewesen, ist der Organist beschenket worden. Dadurch ist er angetrieben worden, zunächst einige Violinen, und dann auch Sänger dazu zu nehmen, bis endlich eine starke Musik daraus geworden ist.«
Die Entdeckung der Geschichte der »Abendmusiken« aus dem Geist des norddeutschen Börsenhandels – anlässlich einer kleinen Reise in die Hansestadt Lübeck – soll österlicher Anlass sein, über den Zusammenhang von Musik, Marktwirtschaft und Moral nachzudenken. Auffallend ist zunächst: Die in Marien aufgeführte Musik begann offenbar bereits im 17. Jahrhundert sich aus dem religiösen Kontext als Dienerin des Glaubens zu lösen. Die von Franz Tunder angebotenen Konzerte fanden zwar in der Kirche, aber nicht im Gottesdienst statt. Konsequent scheint denn auch ihr Zweck zum Zeitvertreib der Kaufleute und Börsenhändler im Vordergrund gestanden zu haben und die gläubige Erbauung eher zweitrangig gewesen zu sein. Man kann getrost von Unterhaltungsmusik sprechen.
Bachs H-Moll-Messe spengt jede Messe
Das bestätigt die Vermutung, dass die Säkularisierung ein Prozess der Verweltlichung ist, der bereits lange vor der eigentlichen Aufklärung als Autonomiebewegung musikalischer Ästhetik sich entwickelte. Die Musik bleibt in der Kirche, löst sich aber aus dem religiösen Kontext – und entwickelt sich fort: die offenbar beachtliche Einnahmen generierende Konzertreihe in St. Marien macht Schritt für Schritt aus dem Soloauftritt der Orgel ein ganzes Orchester nebst Chor, was vermutlich positive Rückwirkung auf die Einnahmen hatte. Es waren wirtschaftlich erfolgreiche Bürger, großzügige Sponsoren, denen wir »starke Musik« verdanken. Ein Jahrhundert später begannen die Komponisten, listig möchte man sagen, religiöse Werke zu schreiben, die für den gottesdienstlichen Einsatz gar nicht mehr geeignet waren. Die kompositorische Anlage von Johann Sebastian Bachs H-Moll-Messe überschritt die Gegebenheiten der regulären lutherischen wie katholischen Liturgie bei weitem – allein schon angesichts ihrer Aufführungsdauer von fast zwei Stunden.
Die Stadt zu einem permanenten Marktplatz zu machen war die Idee der Hanse: ein Verbund von stolzen und selbstverwalteten Bürgerstädten, in dem Lübeck (»civitas Lubeke«) die zentrale Rolle spielte. Markt, Messe und Musik waren auf Tuchfühlung. Kirche und Börse sind in Lübeck einen Katzensprung voneinander entfernt. Als zentral für die Hanse gelten jene städtische Freiheiten (»libertates«), mit denen die Bürger Recht selbst setzten und sich autonom regierten. Lübecks Bedeutung stieg bereits als in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht nur das Salz, sondern auch der Ostsee-Hering zu einem Exportschlager wurde, der wegen des Bevölkerungswachstums und des strengen christlichen Fastengebots (Fisch war erlaubt!) eine ständig wachsende Nachfrage befriedigen musste. Die Musik war quasi hörbarer Ausweis dieses wirtschaftlichen Erfolgs mit Salz und Heringen.
Von der Kirche an die Börse
Der Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow sieht in der Hanse nicht nur eine erste Phase der Globalisierung, sondern auch eine Frühform ökonomischer Netzwerke: das Geheimnis der Hansischen Kaufleute beruhte auf dem wechselseitigen Vertrauen, welches die Kosten ihrer Geschäfte beträchtlich reduzierte. Der Kaufmann in Lübeck konnte sich auf die Ehrlichkeit einer in Danzig, Novgorod, Bergen oder Brügge durchgeführten Warenkontrolle verlassen, die ihm Zeit und Kosten sparte. Man schickte einander Waren und jeder verkaufte an seinem Ort die Güter für den Partner. Für diese Arbeit berechneten sie einander nichts, der Lohn bestand in der Gegenseitigkeit. Besondere Bedeutung besaß das Hansekontor im flandrischen Brügge, wo seit dem 14. Jahrhundert am Marktplatz regelmäßiges Treffen für Handels- und Geldgeschäfte, aber auch Klatsch und Tratsch als »Börse« bezeichnet wurden: ein Tauschplatz für alles Mögliche, immer mehr aber auch für Kredit- und Wechselgeschäfte. Nach diesem Vorbild hatte bald auch Lübeck seine eigene Börse, gegenüber der Kaufmannskirche St. Marien eben. Auf die Idee, dass Geldgeschäfte und religiöse Geschäfte einander in die Quere kommen könnten, wäre in all diesen Zeiten niemand gekommen. Im Gegenteil.
Autonomie der Städte und Globalisierung von West-, Nord- und Zentraleuropa bis nach Russland, die »universitas mercatorum«, mutet einerseits enorm modern an, wie andererseits die Nähe zwischen christlichem Glauben, Vertrauensethik und marktwirtschaftlichem Geschäftssinn ganz und gar einer Welt von gestern zu entstammen scheint. »Arbeite, bete und spare« hieß der gute Rat, den der Kaufmann und Konsul Buddenbrook seinem Sohn Thomas am Ende eines langen Briefes »in sorgender Liebe« mit auf den Weg gibt. Vom alten Buddenbrook stammt jener viel zitierte Grundsatz der Firmenethik: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bei Nacht ruhig schlafen können.« In Krisenzeiten erließ der Hansetag bisweilen zeitlich begrenzte Kreditverbote, um hansische Kaufleute, die die komplizierten geldpolitischen Zusammenhänge nicht kannten, zu schützen: Eine weise Vorsorge, gehen doch die meisten Finanzkrisen der Geschichte auf riskante Kreditgeschäfte zurück.
Musik und Ökonomie mögen sich
Was sagt uns das heute? Offenkundig bedurfte es eines fein austarierten Gleichgewichts von Nähe und Distanz, welche seit der frühen Neuzeit für den Erfolg des Kapitalismus verantwortlich wurde. Ethik, Ästhetik, Ökonomie und Religion genossen jeweils relative Autonomie: Die Musik entfernte sich vom Kult, um den Kaufleuten nicht nur Erbauung, sondern auch Zerstreuung zu bieten. Überschaubare Risiken konnte diese globale Kaufmannschaft eingehen, weil sie Vertrauen zueinander aufgebaut hatte, das im gemeinsamen christlichen Glauben gründete. Vieles davon, so dünkt mich, ist heute nicht mehr rückholbar. Dass aber Offenheit, Risikofreude und Vertrauen bei Wahrung urbaner Souveränität für den wirtschaftlichen Erfolg wichtiger sind als die protzige Blockbildung nationaler Champions, soviel Aktualisierung sei doch gestattet. Und dass Musik und Ökonomie einander gut tun, wird man darüber hinaus ebenfalls vermuten dürfen.
Rainer Hank