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  • 04. Dezember 2024
    Mit Unsicherheit leben

    Der Zufall regiert die Welt Foto Michael Schwarzenberger/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Viel mehr als wir glauben, hängt von Zufällen ab

    Warum ist die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn ein Debattendauerthema, an dem sich Alt und Jung, Arm und Reich, Mann und Frau gleichermaßen beteiligen? Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass wir Unsicherheit nur schwer aushalten.

    Schlechte Ereignisse, die vielleicht eintreten können, sind schwerer zu ertragen als schlechte Ereignisse, die gewiss eintreten. Das ist eine Erkenntnis, die ich dem Neurowissenschaftler Volker Busch verdanke. Wenn klar ist, dass der Zug sechzig Minuten Verspätung hat, ist das nicht schön, aber damit kann man leben, weil man sich darauf einstellen kann. Wenn – was häufig passiert – bis zuletzt völlig unklar ist, ob der Zug 15 oder 70 Minuten Verspätung hat, versetzt uns das in Stress. Nichts ist sicher, so lautet ein Sprichwort, mit Ausnahme der Steuern, des Todes – und der Unsicherheit selbst.

    Ereignisse, die vielleicht eintreten, gibt es ständig: Vielleicht knackt der Dax die 20.000 Punkte? Vielleicht bricht er ein? Vielleicht wird KI unseren Arbeitsplatz ersetzen? Vielleicht aber »lediglich« den des Kollegen? Vielleicht werden E-Autos künftig nur noch in China produziert? Vielleicht führt die Eskalation der Gewalt in Nahost oder der Ukraine irgendwann doch in die ganz große Katastrophe? Vielleicht übernimmt der terroristische IS irgendwann die Macht? Unsicherheit nährt Ängste. Ängste sind anfällig für populistische Angebote.

    Kein Wunder, dass kluge Menschen seit Generationen Wege ersinnen, die Unsicherheit im Zaum zu halten. Wir können uns nicht völlig dem Zufall überlassen. Das würde uns lähmen, jegliches auf die Zukunft ausgerichtete Handeln ersticken, nicht zuletzt das wirtschaftliche Handeln. Zum Fortschritt in der Bekämpfung von Unsicherheiten hat vor allem die Wahrscheinlichkeitsrechnung beigetragen. Mit ihrer Hilfe sind wir in der Lage, Unsicherheit in Risiken zu verwandeln: Wir quantifizieren das mögliche Eintreten eines Ereignisses mit Zahlen und haben damit ein Maß für das Risiko, das wir eingehen. Seit wir wissen, dass es ziemlich riskant ist, auf einen pünktlich ankommenden Zug zu setzen, bauen wir größere Puffer bei der Reiseplanung ein. Das reduziert Stress – lindert freilich nicht unseren Ärger darüber, dass Fahrpläne inzwischen in etwa so fiktional sind wie Daniel Defoes Robinson Crusoe.

    Meritokratie wird überschätzt

    Welches Maß an Unsicherheit jemand auszuhalten bereit ist, wie stark er darunter leidet, ist kein objektives Faktum. Wenn wir in die Ferien fahren, buchen wir das Hotel im Voraus, informieren uns rechtzeitig bei Google Maps über Staus und hoffen, die Wetter-App zeigt uns verlässlich an, wie warm Luft und Wasser an unserem Urlaubsort sind. Freunde von uns machen das ganz anders. Sie hassen Planung und brechen einfach ins Blaue auf. Was wir als unzumutbare Unsicherheit meiden, ist für sie ein Überraschungskitzel, den sie neugierig auf sich zukommen lassen. Unsicherheit ist eine Frage des Framings. Die einen haben Reisefieber, die anderen genießen dasselbe Gefühl als prickelnde Vorfreude auf etwas, was sie noch nicht kennen.

    So oder so unterschätzen wir alle die Wirkmacht des Zufalls im Leben. Dabei hätte man es im Buch Prediger der Heiligen Schrift nachlesen können. Dort steht geschrieben (Kapitel 7, Vers 9): »Wiederum sah ich unter der Sonne, dass nicht den Schnellen der Preis zufällt, und nicht den Helden der Sieg, nicht den Weisen das Brot, noch den Verständigen Reichtum, noch den Einsichtigen Gunst; sondern alle trifft Zeit und Zufall.« So ist es. Lieber wäre es uns, Beruf und unser Einkommen wären der Lohn für unsere Leistung und deshalb gerecht und angemessen. Meritokratie, die Annahme, dass Leistung belohnt wird, ist ein frommer Wunsch.

    Der schönste Beleg, den ich für die Macht des Zufalls, also die Unsicherheit über die Zukunft, kenne, kommt aus dem Fußball. Forscher um den Sportwissenschaftler Martin Lames von der Technischen Universität München haben ein Beobachtungssystem entwickelt, mit dem das geplante oder nicht planbare Zustandekommen von Toren ermittelt wird. Sechs Merkmale sollen dafür stehen: abgefälschte Bälle, Abpraller, Tore mit Torwartberührung, Abpraller von Latte oder Pfosten, große Entfernung und Beteiligung der Abwehr. Das Ergebnis: In Gesamt von über 2500 Toren in der Datenbank der Forscher war bei 44,6 Prozent der Zufall beteiligt. Oder leicht vergröbert gesagt: Fast jedes zweite Tor verdankt sich nicht dem Können des teuer eingekauften Fußballers oder der strategischen Genialität des ebenso teuren Trainers. Sondern dem puren Zufall. Die Unsicherheit über den Ausgang eines Fußballspiels ist hoch.

    Zufall im Fußball

    Ich habe das Fußballexperiment häufig im Freundeskreis zum Besten gegeben. Die Reaktion war immer dieselbe: Man monierte, ich verstünde nichts von Fußball und bestritt das Ergebnis des Experiments. Ersteres ist korrekt, letzteres nicht. Die Studie wurde mehrfach empirisch überprüft. Einerseits wollen wir den Zufall im Sport möglichst geringhalten und geben dafür auch ziemlich viel Geld für Training, Strategieplanung und Spielanalyse aus. Andererseits macht die Unsicherheit über den Ausgang des Spiels gerade den Reiz des Wettbewerbs aus. Wäre das Ergebnis planbar, würde es schnell langweilig.

    Wen das Nachdenken über Unsicherheit genauso fasziniert wie mich, dem empfehle ich das neue Buch von David Spiegelhalter: »The Art of Uncertainty«. Der Mann ist emeritierter Professor für Statistik an der Universität Cambridge. Sein Vorgängerbuch »The Art of Statistics« von 2019 ist ein Longseller. Spiegelhalter schreibt nicht (nur) für Akademiker, sondern für »interessierte Leute, die auf Fachleute angewiesen sind, ohne deren Glaubwürdigkeit beurteilen zu können«. Das Buch ist unterhaltsam und mit vielen Beispielen gespickt, hüpft von Giacomo Casanovas Idee einer Lotterie für den französischen Staat bis zu Bayes Theorem zur Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Und befreit vom Zwang der Herstellung einer Welt ohne Unsicherheit. Eher geht es darum, zu großes oder zu geringes (Un)sicherheitsgefühl zu identifizieren. Die Behauptung von US-Präsident George W. Bush, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, hat die hohe Unsicherheit dieser Behauptung unterschlagen. Die Behauptung, Rauchen verursache Krebs, wurde von der Tabakindustrie jahrelang als hochgradig unsicher interpretiert. Um dies zu durchschauen, braucht es weniger Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung als der Interessen politischer und wirtschaftlicher Macht.

    Die größte Unsicherheit des Lebens ist der Zufall der Geburt. Der ist am wenigsten zu beeinflussen und beeinflusst seinerseits doch so vieles. Wann, wo, in welcher Zeit, mit welchen Genen jemand auf die Welt kommt, macht einen Unterschied fürs ganze Leben. Dies lässt sich nur in Demut zur Kenntnis nehmen.

    Rainer Hank