Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen27. September 2022
Militante DemokratieThomas Mann und der Kampf gegen die Feinde der Freiheit
Als Katja und Thomas Mann im Februar 1938 zu einer Vortragsreise in die USA in Le Havre an Bord der Queen Mary gingen, schwante ihnen, dass diese Reise womöglich der Beginn eines langen Exils werden könnte. Seit 1933 hatten das Paar Zuflucht in Küssnacht am Zürichsee gefunden. Der sich abzeichnende »Anschluss« Österreichs ließ ihnen selbst die Schweiz nicht mehr als hinreichend sicher erscheinen.
Der Vortrag, den der Schriftsteller auf diese Reise in vielen Städten Amerikas halten sollte, trug – in einer Zeit der größten Gefährdung der offenen Gesellschaft – den kontrafaktischen Titel »Vom kommenden Sieg der Demokratie«. Gerade weil Demokratie »heute kein gesichertes Gut« sei, sondern angefeindet, von innen und von außen bedroht, tue eine »Selbstbestimmung der Demokratie« not. Die Freiheit müsse »ihre Männlichkeit« entdecken, so Thomas Mann, sie müsse lernen, »in Harnisch zu gehen und sich gegen ihre Todfeinde zu wehren«. Die Rede mündet schließlich in den berühmten Satz, die (freie) Welt müsse endlich begreifen, »dass sie mit einem Pazifismus, der eingesteht, den Krieg um keinen Preis zu wollen, den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen.«
Das Diktum gegen die pazifistischen Illusionisten darf man hellsichtig nennen, nimmt es doch ein halbes Jahr vor dem Münchner Abkommen die fatale Konsequenz der Appeasement-Politik westlicher Demokratien vorweg, die über die Köpfe der Tschechoslowakei hinweg Hitler die Abtretung des Sudetenlandes zubilligten, mit dem Resultat, den Krieg nicht zu bannen, sondern erst recht herbeizuführen. Hinterher ist man immer schlauer. Vorher aber meinte man, mit Verhandlungen und Zugeständnissen den Aggressor besänftigen zu können. Entgegenkommen gegen Deutschland wäre an der Zeit gewesen, als die Nazis noch nicht an der Macht waren, sagt Thomas Mann. Entgegenkommen werde auch wieder angeraten sein nach Hitlers Fall: »Gegenwärtig aber bedeutet jede Erfüllung deutscher Ansprüche einen grausamen und entmutigenden Schlag gegen die auf Freiheit und Frieden gerichteten Kräfte im deutschen Volk.«
Das Klima der Unfreiheit wird rauher
Es gilt als ahistorisch, eine direkte Verbindungslinie aus dem Jahr 1938 in das Jahr 2022 zu ziehen. Geschenkt. Die Frage wird dennoch erlaubt sein, ob angesichts der heutigen Bedrohung der liberalen Demokratie die Verteidigung der Freiheit nicht zu defensiv und kleinmütig daherkommt.
Tatsächlich war die Freiheit weltweit lange nicht mehr derart bedroht wie heute. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, subsumiert nur noch gut 20 Prozent der Staaten der Welt als »frei«, doppelt so viel gelten als »nicht frei«, weitere knapp 40 Prozent sind allenfalls »teilweise frei«. Das bezieht sich auf das Jahr 2020. Inzwischen dominieren die Gegner der Freiheit nicht nur in Russland, China, Indien und einer Reihe von Ländern Osteuropas. Die Einschläge rücken näher: Schweden, das »Folksheim«, das über lange Jahrzehnte für viele das Ideal einer egalitären und friedlichen Gesellschaft darstellte, wird demnächst von einer rechtsnationalen Partei regiert, welche die Duldung von rassistischen Populisten in Kauf nimmt. Und in Italien könnte an diesem Wochenende eine Bewerberin dem Amt der Ministerpräsidentin näherkommen, die die Symbolik der Mussolini-Faschisten hoffähig machen will.
Dem Klima der Unfreiheit von rechtsaußen korrespondiert eine sich radikalisierende Stimmung von links, die, ausgehend von den Universitäten, im Namen von Antirassismus und Gerechtigkeit nichts als Intoleranz und Hass erzeugt. »In liberalen Medien kann ein falsches Wort Karrieren beenden, an den Universitäten herrscht ein Klima der Angst, Unternehmen feuern Mitarbeiter, die sich dem neuen Zeitgeist widersetzen«, schreibt der Autor René Pfister (»Ein falsches Wort«); er zeigt, wie eine linke Identitätspolitik unsere Meinungs-Freiheit bedroht.
Politische Polyphonie
Allemal geht es nicht einfach um die Verteidigung der Demokratie. Denn Rechts- oder Linkspopulisten kommen ja gerade über demokratische Wahlverfahren an die Macht. Es geht um die Verteidigung der liberalen Demokratie: das ist jenes Verfahren der Machtbeschaffung, das sich selbst (gegen die Forderungen des Pöbels) an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit bindet. Dazu zählen die Achtung einer unabhängigen Justiz, die Anerkennung einer freien Presse, die Ächtung politischer Korruption, die Garantie freier Märkte. Und der Auftrag, die Minderheit nicht der Diktatur der (demokratischen) Mehrheit zu unterwerfen.
Das führt zurück zu Thomas Mann, der in Amerika seine vormalige Verachtung für die Demokratie abstreift, indes mit dem Liberalismus zeitlebens fremdelt. Die transatlantische Erfahrung überzeugte den weltberühmten Dichter vom Wert einer Haltung der Skepsis, die in der Lage ist, Ambivalenzen auszuhalten und elitären Absolutheitsansprüchen abzuschwören. Es sind die »konservativen« Werte einer bürgerlichen Zivilisation, die auf »Geld, Städte, Geist und Handel« baut, wie Thomas Mann mit Bezug auf den liberalen Schriftsteller Benjamin Constant schreibt.
In Zeiten der illiberalen Polarisierung (damals wie heute) reicht es nicht, die Werte der Toleranz und Freiheit zu beschwören. Darüber hinaus ist es nötig, deutlich zu machen, dass liberale Toleranz an der Bedrohung durch die Intoleranz ihre Grenze findet. »Nur denn, damit die Demokratie triumphiere, muss sie kämpfen, möge sie auch lange des Kampfes entwöhnt gewesen sein«, so lesen wir in Manns Vortrag über »Das Problem der Freiheit« von 1939: »Eine militante Demokratie tut heute not, die sich des Zweifels an sich selbst entschlägt.«
Thomas Mann unterschlägt Karl Loewenstein, der den Begriff der »wehrhaften Demokratie« (»militant democracy«) 1937 geprägt hat. Stattdessen zieht er die Analogie zur »ecclesia militans«, der kämpferischen Kirche: Sie kämpft für das Evangelium der Toleranz und bekämpft doch zugleich die Feinde der Toleranz.
Womöglich ist dies das Problem des heutigen Liberalismus, dass er sich – eingeschüchtert von aller Schelte als Neoliberalismus – gar nicht mehr traut, »militant« für die Freiheit zu einzustehen, weil sogar er selbst daran glaubt, der entfesselte Kapitalismus, die Globalisierung und eine angeblich hypertrophe Freiheitsidee seien schuld am »Gegenschlag«, dem Triumph des Antiliberalismus.
Die Waffen, die den Liberalen zur Verfügung stehen, haben ihr eigenes Arsenal: Liberale verteidigen das Recht der politischen Polyphonie, relativieren Absolutheitsansprüche mit ironischer Distanz, verlieren ihre Menschenfreundlichkeit nur da, wo sie es mit den Todfeinden der Humanität zu tun haben. Gegen diese Feinde mit Waffen zu mobil zu machen, erzwingt die Pflicht zur Verteidigung der liberalen Gesellschaft.
Rainer Hank