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  • 18. Oktober 2025
    Meins oder Deins?

    Mein Eimerchen, Dein Eimerchen. Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum der Neo-Merkantilismus viele Freunde hat

    Wenn ich Ihnen, liebe Leserin dieser Kolumne, zehn Euro gebe, dann mache ich einen Verlust und Sie einen Gewinn. Wenn es eine Chef-Stelle im Unternehmen zu besetzen gibt, dann kann nur einer gewinnen. Der andere hat das Nachsehen und steht als Loser da.

    Des einen Gewinn ist des anderen Verlust. In der Spieltheorie nennt man das ein Nullsummenspiel. Die Theorie ist unmittelbar plausibel. Man braucht weder Mathematik noch Ökonomie studiert zu haben, um sie zu verstehen. Sie bezieht ihre Wahrheit aus jedermanns Alltagserfahrung.

    Ökonomen widersprechen gleichwohl. Wenn es um den internationalen Handel geht, so sagen sie, gewinnen durch offene Märkte und freien Handel alle Beteiligten. Statt Nullsumme versprechen sie eine Win-Win-Erfahrung. Damit haben sie recht. Aber sie müssen gegen die unmittelbare Intuition ankämpfen. Wirtschaftstheorie ist in vielen Fällen kontraintuitiv. Je älter ich werde, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass es diese kontraintuitiven, dem »gesunden Menschenverstand« widersprechenden Aussagen sind, die dafür verantwortlich sind, dass unsere konkrete Welt womöglich die beste aller möglichen Welten ist, aber sie gleichwohl besser sein könnte – wenn die ökonomischen Gesetze nicht nur für Ökonomen, sondern auch für den Rest der Menschheit eine unmittelbare Plausibilität hätten.

    Machen wir Beispiele für die Verführung durch die Intuition. Dabei ist der gesunde Menschenverstand in vielen Fällen deckungsgleich mit dem Verstand der Politiker. Wie sollte es in einer Demokratie auch anders sein. Wenn es eine Mietpreisbremse gibt, dann werden die Wohnungen nicht mehr teurer, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass sich der Wohnungsmarkt nicht entspannt. Wenn es einen hohen Mindestlohn gibt, dann sichert das gut bezahlte Jobs, sagt der normale Menschenverstand – und wundert sich darüber, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn ich Geld spare, dann sichert das mein späteres Wohlergehen, sagt die Intuition – und wundert sich darüber, dass die Wirtschaft in die Krise gerät, wenn niemand mehr Geld ausgibt. Und das Ersparte schrumpft.

    Die Liste könnte fortgesetzt werden. Das Paradox entsteht dadurch, dass die unbeabsichtigten Wirkungen des Gutgemeinten nicht ins Kalkül einbezogen werden und/oder dass, was für eine einzelne Person plausibel ist, nicht zwingend auch für alle gut ist.

    Win-Win oder Nullsummen-Spiel?

    Womit wir wieder beim Handel der Nationen angekommen sind. Dort hat die Nullsummentheorie eine große und lange Tradition. Sie heißt Merkantilismus. Der Merkantilismus ist die wirtschaftspolitische Denkschule des gesunden Menschenverstands. Er war die herrschende ökonomische Theorie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in allen entwickelten Staaten Europas und Nord- wie Südamerikas. Und er könnte es bald wieder sein.

    Die Theorie geht, grob gesagt, so: Exporte sind für ein Land gut. Importe sind schlecht. Handelsüberschüsse müssen politisch gefördert werden. Dafür gibt es mehrere Instrumente. Zölle bremsen die Einfuhr und bringen Staatseinnahmen, Subventionen sollen die heimische Industrie stärken. Dahinter steht der Gedanke, dass der Wohlstand eines Landes sich bemisst am Reichtum aus Gold und Silber, den man durch den Export einnimmt. Das nannte man »Bullionismus« (von englisch: Barren). Die Edelmetallbestände spiegeln den wahren Reichtum eines Landes, so dachte man.

    Konsequent waren aus dieser merkantilistischen Sicht auch Imperialismus und Kolonialismus. Denn dann wird der Heimatmarkt vergrößert. Die Kolonien liefern Rohstoffe, müssen also nicht mehr importiert werden. Zugleich sind die Kolonien ein wichtiger Absatzmarkt für die im Mutterland hergestellten Produkte.

    Das, wie gesagt, ist lediglich eine grobe Skizze des Merkantilismus. Sie wurde von dem großen schottischen Ökonomen Adam Smith in seinem Werk über den »Wohlstand der Nationen« von 1776 nach allen Regeln der Kunst zerpflügt und (eigentlich) beerdigt. Wohlstand entsteht durch freien Handel und internationale Arbeitsteilung, so Smiths These. Kooperation nützt allen Handelspartnern. Win Win ist dem Nullsummenspiel überlegen. Wenn ein Land auf Autarkie setzt, wird es langfristig verarmen. Reich bleibt allenfalls das Königshaus, das den Menschen verschwiegen hat, dass die Gold- und Silberschätze nur den Reichtum der Eliten, nicht aber den Wohlstand der Nation messen. Wenn Merkantilisten auf Zölle setzen, setzen sie einen Handelskrieg in Gang, der schnell in einen militärischen Krieg überzugehen droht.

    Die Theorie des Freihandels ist dem Merkantilismus nicht nur theoretisch überlegen, sondern auch praktisch. Die größten Wohlstandsgewinne entstanden in Zeiten des Freihandels. Etwa im späten 19. Jahrhundert. Oder im späten 20. Jahrhundert, als China sich der Marktwirtschaft geöffnet hatte. Merkantilismus mag kurzfristig Erfolge bringen – etwa bei nachholender Entwicklung. Langfristig ist er ein Weg in die Armut.

    Schwachstellen des Liberalismus

    Und doch ist der Merkantilismus nicht auf dem Friedhof der Fortschrittsgeschichte gelandet. Sondern derzeit so präsent wie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Das liegt, wie gesagt, an seiner intuitiven Überlegenheit. Mit Merkantilismus (Zölle, Subventionen für die heimische Industrie) lassen sich Wahlen gewinnen. Mit Merkantilismus lassen sich neomonarchische und neokoloniale Träume verwirklichen – siehe Donald Trump: »Der Staat bin ich.«

    Die Aktualität des Merkantilismus lebt davon, dass der Liberalismus immer schon eine Schwachstelle hatte: Und das ist seine Blindheit für das Phänomen der Macht. Freihandel unterstellt, dass wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten von Nationen im Interesse aller Marktteilnehmer sind. Sie werden keine Kriege anzetteln, denn dann würden sie die Quelle ihres Wohlstands unterminieren. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist sein (einziges) Entmachtungsinstrument. Handel als pazifizierende und machtreduzierende Strategie. Davon lebt der Liberalismus.

    »Naiv«, so tönt es heute aus den Sprachrohren der Propagandeure des geoökonomischen Merkantilismus. Tatsächlich haben die Freihändler die Bedeutung der politischen Macht unterschätzt. Der Liberalismus kennt nur wohlgesonnene Handelspartner, die sich freiwillig in Abhängigkeit begeben haben zum wechselseitigen Nutzen. Der Merkantilismus dagegen kalkuliert mit der politischen Macht. Die kennt Freund und Feind, ist bereit auf Wohlstand zu verzichten im Interesse nationaler Überlegenheit und/oder Sicherheit.

    Im Nullsummenspiel der Macht kann nur einer den Krieg gewinnen, den Handelskrieg wie den militärischen Krieg. Dass mag plausibel sein. Es ist gleichwohl falsch, wie wir aus vielen Kriegserfahrungen wissen. Wer an das Nullsummenspiel glaubt, landet meist in einer lose-lose Situation. Deshalb ist die Welt derzeit so gefährlich.

    Rainer Hank