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  • 08. Februar 2022
    Lust und Kapitalismus

    Peter Paul Rubens: Lot und seine Töchter (1608) Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Peter Paul Rubens malt bürgerliche Tugenden

    Das Wichtigste am Kapitalismus ist nicht das Kapital. Das Wichtigste sind die Ideen. Ohne die Erfindung des Geldes als allgemeines Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel würden wir heute immer noch Muscheln und Knöpfe tauschen. Ohne die Erfindung des Kredits und des Zinses als Lohn der Geduld würde den Investoren das Kapital für ihre Unternehmungen fehlen. Und ohne die Erfindung der Öl- und Getreidemühle müssten wird das Mehl immer noch aus Weizen und Roggen stampfen und die Oliven mit Steinen quetschen. Von der Erfindung des Chips und des Internets zu schweigen.

    Auch Haltungen sind Ideen: Die braucht es, damit Kaufleute einander nicht übers Ohr hauen (Ehrlichkeit) und Startup-Unternehmer nicht bei der ersten Pleite die Flinte ins Korn werfen (Resilienz). Die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey wird nicht müde zu erzählen, dass es ohne »bürgerliche Tugenden« nie zur industriellen Revolution gekommen wäre, welche die Armen reich gemacht hat. Diese Tugenden wurden in den italienischen Städten der Renaissance (15. Jahrhundert) und in den Handelsstädten der Niederlande (16. und 17. Jahrhundert) »erfunden« – anschließend in philosophische Form gegossen von den schottischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts (Adam Smith und David Hume).

    Wie funktioniert der Transfer von der Tugendlehre zum Wirtschaftserfolg des Kaufmanns oder Börsenhändlers? Die bildende Kunst spielt eine entscheidende Rolle. Das lässt sich noch bis zum 20. Februar in einer formidablen Ausstellung mit Bildern des Malers Peter Paul Rubens (1577 bis 1640) in der Stuttgarter Staatsgalerie studieren. Rubens, vielen heutzutage lediglich von Gemälden üppiger Frauenkörper bekannt, ist, wenn man so will, der Maler der marktwirtschaftlichen Moral. Dass er dabei den Markt auch perfekt zum eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu bedienen wusste, lässt sich in Stuttgart ebenfalls studieren: »Becoming famous« – werde berühmt! -, so der Titel der Ausstellung, war schon damals der kategorische Imperativ des künstlerischen Kapitalismus.

    Lot und seine Töchter

    Rubens wird als Sohn einer wohlhabenden protestantischen Bürgersfamilie geboren. Antwerpen war im 16. Jahrhundert die reichste Handelsstadt Europas und Standort der ersten Rohstoffbörse der Welt. Rubens wird – nach Lehr und Wanderjahren in Rom und Genua – zum Porträtisten der Reichen und Mächtigen seiner Heimatstadt. Bei seinem Tod ist er ein berühmter Mann. Gemälde aus seiner Werkstatt hängen in vielen Salons Europas. 800 Seelenmessen werden für ihn gelesen, damit es ihm im Himmel wohlergehen möge.

    An »Lot und seine Töchter« lässt sich studieren, wie die Tugendlehre des Kapitalismus konkret funktioniert. (Ich halte mich an die Interpretation von Gero Seelig im Katalog der Stuttgarter Ausstellung). Das Ölgemälde entstand 1608, kurz nach der Rückkehr des Malers aus Italien nach Antwerpen. Das Sujet behandelt eine Geschichte der Bibel, erzählt im Kapitel 19 des Buches Exodus. Gott, der Herr, ließ mit Schwefel und Feuer Sodom und Gomorrha zerstören, weil die Bewohner der beiden Städte ein sündhaft ausschweifendes Leben führten. Nur Lot, ein Migrant aus Mesopotamien und Verwandter Abrahams, nebst seinen beiden Töchtern wurde von Gott gerettet. Lots Frau zählte zunächst auch zur Gruppe der Erretteten, erstarrte allerdings zur Salzsäule, weil sie verbotenerweise gewagt hatte, sich noch einmal zur brennenden Stadt umzublicken.
    Lot und seine Töchter ließen sich in einer Höhle im Gebirge nieder. Da weit und breit kein anderer Mann zu finden war, kamen die Töchter auf die Idee, ihren alten Vater zu verführen, um den Fortbestand der Familie zu sichern: Sie wurden schwanger; beide brachten einen Sohn zur Welt.

    Warum zeigen Bürger Antwerpens an prominenter Stelle ihres Hauses eine Darstellung von Inzest und Trunkenheit? Fraglos als Abschreckung. Die biblische Episode ist ein Exempel dafür, wohin Weinrausch und sexuelle Begierde führen. »Triebregulierung« könnte man die Absicht der Rubensschen Tugendlehre nennen: Zähmt euch! Wer dem Alkohol verfällt, ist nicht mehr Herr seiner Sinne und wird keine guten Geschäfte mehr machen. Das Bild handelt von der (vermeintlichen) Macht der Frauen über die Männer. Die »überlegene List« der Frau und die Wirkung übermäßigen Alkoholgenusses galten als zwei der größten Gefahren, die dem Manne widerfahren können.

    Verführter oder Verführer?

    Doch so schlicht opfer-moralistisch, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist Rubens nicht. Auffällig auf dem Bild ist die Abweichung von der biblischen Erzählung, in welcher der Vater als willenlos trunken geschildert wird. Bei Rubens wird ihm eine aktive Rolle zugeschrieben, während die beiden jungen Frauen ordentlich bekleidet sind, nur eine Schulter entblößt, – anders als in vielen Darstellungen des Themas und anders, als man es gerade von Rubens erwarten könnte. Siehe da: Der Mann macht es sich zu einfach, wenn er sich lediglich als von der Frau verführtes Opfer darstellt und den Rausch als Entschuldigung für sein Vergehen nimmt. Selbst der kapitalistische Sittenwächter Jean Calvin habe in seinem Bibelkommentar versucht, Lot zu entlasten, schreibt Gero Seelig. Rubens lässt ihm das nicht durchgehen.

    Trunksucht und Wollust sind Laster. Sie gefährden das Seelenheil und das Geschäft. Dies bildlich sich und seinen Gästen täglich vor Augen zu führen, mag als Warnung dienen, womöglich aber auch als Entlastung: Der Betrachtet darf mit Augen durchaus genießen, was im realen Leben verboten ist. Der Künstler bietet ästhetische Kompensation für den zivilisatorischen Triebverzicht. Diese Ambivalenz ist es, mit welcher die Kunst sich der simplen kapitalistischen Pädagogik widersetzt.

    Noch eines: Lot war in Sodom als Fremder verhasst, wurde von den Einheimischen mit dem Tod bedroht: »Weg mit Dir! – was will ein Fremdling her dien Richter spielen.« Aus Sodom wird Lot gerettet und Fremdenfeindlichkeit bestraft. Ausländerhass konnte der globale Kapitalismus schon im frühen 17. Jahrhundert nicht gebrauchen.

    Rainer Hank