Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen18. Februar 2024
Lob des KonfliktsRalf Dahrendorf grüßt die Stuttgarter Dreikönige
Die liberale Demokratie ist in Gefahr. Das hat sich herumgesprochen. Liberale Demokratien, grob skizziert, zeichnen sich aus durch ein Bekenntnis zur Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Sowie durch die Anerkennung von Meinungsfreiheit und den Schutz von Minderheiten. Und schließlich durch den Glauben, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft die besten und freiesten Arrangements sind, den Wohlstand der Menschen zu mehren, zumal dann, wenn darin das Bekenntnis zur grenzüberschreitenden Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen impliziert ist.
Lange sind die Menschen mit diesen Überzeugungen gut gefahren. Inzwischen ändert sich das. An die Stelle der Anerkennung von wechselseitig akzeptierten Regeln tritt das Pochen auf die Gesetze der Macht, verbunden mit der Androhung von Krieg und Gewalt. Anstelle des Glaubens an den Wohlstand generierenden Freihandel tritt der Rückzug auf eine National-Ökonomie, die meint, sich selbst zu genügen und Autarkie beschwört. Dabei wird das Vertrauen in Risiko und Selbstverantwortung für Unternehmer wie Arbeitnehmer zunehmend ersetzt durch einen Wettlauf um Subventionen und Sozialleistungen. Schließlich wird auch der liberale Wettbewerb um das beste Argument ersetzt durch protektionistische Diskursregeln darüber, wer überhaupt berechtigt ist, sich zu äußern und wozu. Widerspruch gilt als unfein, es könnte sich ja jemand traumatisiert fühlen.
Merkwürdig finde ich, wie eigentümlich defensiv liberale Denker auf diese Bedrohung ihrer Grundüberzeugungen reagieren. Anstatt offensiv die Gegner einer liberalen Demokratie zu attackieren, üben sie sich in schuldbewusster Selbstkritik. Prominent steht dafür Francis Fukuyama, von dem nach dem Fall des Kommunismus die These stammt, illiberale Systeme seien endgültig zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Dass es anders gekommen ist, lastet er weniger den Feinden des Liberalismus an, sondern vielmehr den Liberalen selbst: Die Rechtsliberalen hätten es mit dem Turbokapitalismus übertrieben und den Liberalismus zum Neoliberalismus verunstaltet, während die Linksliberalen sich in ein wokes Schneckenhaus verkrochen und dabei den liberalen Universalismus verraten hätten. So gesehen wären es nicht die Populisten, die den modischen Illiberalismus zu verantworten hätten, sondern die Liberalen selbst.
»Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«
Aus Anlass des traditionellen Dreikönigstreffens der deutschen Freien Demokraten habe ich mich auf die Suche gemacht nach einer offensiven Verteidigung der liberalen Demokratie. Und bin fündig geworden bei Ralf Dahrendorf und seiner Schrift »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« aus dem Jahr 1965, also vor knapp sechzig Jahren erschienen. Dahrendorf war damals gerade 36 Jahre alt und galt als akademisches Wunderkind. Studiert hatte er Philosophie, klassische Philologie, später dann Soziologie in Deutschland und an der London School of Economics. Als »Gesellschaft und Demokratie« erschien, war er schon seit sieben Jahren Professor, zunächst in Hamburg, aktuell in Tübingen. 1966 wechselte er an die neugegründete Universität Konstanz, die man damals eine Reformuniversität nannte. Zugleich engagierte er sich als FDP-Mitglied im baden-württembergischen Landtag, wurde später Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Walter Scheel und EU-Kommissar in Brüssel. Leicht haben sich Dahrendorf und die FDP nie miteinander getan; Intellektuelle in der Politik sind notorische Störenfriede.
Dahrendorfs biographischem Weg zwischen Wissenschaft und Politik spiegelt sich auch in der Anlage von »Gesellschaft und Demokratie«: Das Buch vereint historische Erklärung, soziologische Analyse und engagierte politische Theorie, aus heutiger Sicht eine Ausnahmeschrift, für den liberalen Lernprozess der Bundesrepublik deutlich wirkungsvoller als etwa die negative Hermetik der Frankfurter Schule. Das Buch erreichte ein ungewöhnlich großes Publikum und wurde rasche ein wissenschaftlicher Bestsellers.
Doch was steht drin? Ich konzentriere mich auf drei für eine liberale Demokratie zentrale Begriffe: Gleichheit, Konflikt und Freiheit.
Dass ein Liberaler mit dem Lob der Gleichheit beginnt, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn es geht ihm um gleiche Bürgerrechte für alle – nicht um gleichen sozialen Status oder egalisierende Umverteilung. Dialektisch formuliert Dahrendorf, man könnte den Sinn der Gleichheitsrechte geradezu darin sehen, dass sie Ungleichheit ermöglicht, sofern diese nicht an die Lebensgrundlagen des Einzelnen greift.Konflikt ist Freiheit
Aktueller noch ist die Anerkennung des Konflikts als konstituierendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft. Konflikte sind gerade keine Störfälle einer demokratischen Gesellschaft. Sondern umgekehrt wäre Harmonie Ausdruck einer gefährlichen Sehnsucht nach Konformität und Synthese, die Andersartiges und Sperriges nicht dulden will. Der Konflikt ist somit nicht nur produktiver Treiber im politischen Wettbewerb der Parteien und Motivator im wirtschaftlichen Wettbewerb der Unternehmen, sondern auch Legitimation einer wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen, vornehm Ambiguitätstoleranz genannt. Dass der Andere anderer Meinung ist, ist nicht Ärgernis, sondern Herausforderung. These und Antithese brauchen keine Synthese, auch wenn die Deutschen das gerne glauben. Konflikte in Regierungskoalitionen – abschätzig als »Streit« denunziert – wären dann dringende erforderlich; sie können verhindern, dass Regierungsgewalt missbraucht wird.
Dahrendorfs Lob des Konflikts mündet schließlich in eine Theorie der Freiheit: »Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann.« Nicht Wahrheitsstreben, sondern der liberal verstandene Wettbewerb der Meinungen bewirke Fortschritt und biete ebenso Schutz vor der »Dogmatisierung des Irrtums«.
Dahrendorf – wie gesagt Soziologe, FDP-Mitglied und vor allem frech – bot seine Konflikttheorie an als Medizin gegen die »Entmündigung des Einzelnen« durch den Staat wie auch gegen die »verstaubte Liberalität« seiner Gegenwart. Wer ahnen möchte, wo Dahrendorf den Staub wahrgenommen haben könnte, der mag sich im Internet Archiv-Berichte über das Dreikönigstreffen der FDP im Januar 1964 ansehen. Motto: »Bewährtes erhalten – Zukunft gestalten.« Alles ziemlich verschnarcht. Dahrendorf und eine Reihe politischer Mitstreiter haben dagegen in den späten sechziger Jahren nicht nur dem politischen Liberalismus zu einem Aufbruch verholfen, sondern auch zu einer Liberalisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen.
Rainer Hank