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  • 01. Juli 2024
    Lob der Kleinstaaterei

    Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat wenig zu sagen Foto: BMBW

    Dieser Artikel in der FAZ

    Föderalismus in der Bildung hat einen schlechten Ruf. Zu Unrecht.

    Eine Freundin ist vor ein paar Jahren aus beruflichen Gründen mit ihrer Familie von Hamburg nach München gezogen. Unter dem Schulwechsel, den der Umzug zur Folge hatte, leiden die Kinder bis heute. In Hamburg waren die Schulnoten stets bestens. In Bayern, so erzählt die Mutter, sind die Anforderungen nicht etwa strenger. Doch in Mathe, nur als Beispiel, wurde die Kenntnis »negativer Zahlen« vorausgesetzt. Die wären in Hamburg erst später drangekommen. Die Noten der Kinder sackten in den Keller. Der Schock des Ortswechsels wurde zum Familiendrama.

    Es sind solche Geschichten, die erklären, warum der Bildungsföderalismus in Deutschland einen miserablen Ruf hat. Um die 70 Prozent der Befragten plädieren in Umfragen regelmäßig für mehr Zentralismus der Standards durch das Bundesbildungsministerium. Bildungsdurcheinander als Mobilitätshemmer beruflicher Veränderung – wenn dies der Effekt des Föderalismus sei, sollte man ihn lieber abschaffen, so heißt es. Einen guten Stand hat der Föderalismus eigentlich nur noch in Sonntagreden. Ansonsten wird er als Flickenteppich und Kleinstaaterei geschmäht. Einzig in Bayern schneidet das regional differenzierte Bildungssystem im Ansehen besser ab. Jedenfalls bei denen, die ihre ganze Bildung dort absolvieren. Kein Wunder: Im Leistungsvergleich liegt der Freistaat zumeist an der Spitze. Eltern haben den Eindruck, ihre Kinder würden dort am besten auf ein erfolgreiches und einkommensstarkes Leben vorbereitet. Und ja, natürlich verteidigen die Kultusminister der Länder den Föderalismus. Kein Wunder, sie würden andernfalls ihren Job verlieren.

    Dass Bildung Ländersache ist, war einmal der konfessionellen Friedenssicherung geschuldet, belehren mich Jörg Scheller und Michael Geiss, zwei Schweizer Autoren, in einem FAZ-Essay: Katholische Eltern sollten nicht genötigt werden, ihre Kinder in eine unchristliche oder, schlimmer noch, in eine protestantische Schule zu schicken. Durch die Regionalisierung der Kompetenzen ließ sich dieser Konflikt entschärfen. Heute hat sich dieses Problem angesichts flächendeckender Säkularisierung erledigt.

    Yardstick Competition

    Hat denn niemand ein paar gute Argumente für den Bildungsföderalismus? Zumindest unter Ökonomen, von Berufs wegen Freunde der Konkurrenz, finden sich noch ein paar Befürworter. So etwa beim Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministers. Das Argument der Wissenschaftler geht so: Das Wahlvolk könne im Zentralismus wegen mangelnder Vergleichsmöglichkeit die Qualität der von ihm gewählten Politikerinnen und Politiker nicht wirksam überwachen. Im Föderalismus haben die Wähler aber die Chance, aus dem Vergleich mit den Politikergebnissen benachbarter Länder Rückschlüsse auf die Leistungen der Politik ziehen, so dass in der Politik ein Wettbewerb anhand von Vergleichsmaßstäben entsteht. Der Fachbegriff dafür heißt »Yardstick Competition«: Institutioneller Wettbewerb zwischen Bundesländern könne somit die Effizienz der Bildung verbessern. Klingt ein bisschen geschwollen, ich weiß. Einfacher gesagt: Föderalismus hat den Vorteil, dass sich Fehler an der Spitze nicht gleich auf das ganze Land auswirken. Das übersehen die Anhänger der zentralen Bildungsplanwirtschaft, wenn sie blind auf die Weisheit von Frau Stark-Watzinger vertrauen. Das Argument, Bürger könnten in einem Föderalismus dorthin umziehen, wo ihnen die Schulpolitik besser gefällt, ist natürlich blauäugig. Doch wenn »Yardstick Competition« die Bürger über die bessere Qualität der Bildung in anderen Bundesländern informiert, können die Wähler ihr Missfallen über die Politik im eigenen Bundesland an der Wahlurne zum Ausdruck bringen.

    Geht das auch ein bisschen konkreter? Ja. Vor ein paar Wochen hat Ludger Wößmann vom Münchner Ifo-Institut, für mich der anregendste Bildungsökonom hierzulande, eine Studie über die Chancengleichheit in den Bundesländern vorgelegt. Dort geht es um den Skandal, dass deutschlandweit nur wenige Kinder aus Nichtakademikerfamilien das Gymnasium besuchen, währen die meisten Akademikereltern von ihren Sprösslingen erwarten, dass sie auf die höhere Schule gehen. Das heißt nicht, dass das Abitur des Menschen Glück bedeutet. Doch die Chancen sollten gleich verteilt sein, sofern es mit gerechten Dingen zugeht.

    Das Ergebnis der Ifo-Studie förderte deutliche regionale Unterschiede zutage. Ausgerechnet in Berlin und Brandenburg sind die Chancen des Bildungsaufstiegs für Unterschichtskinder relativ besser, besser auch als ausgerechnet in Bayern und Sachsen. Wößmann und seine Koautoren haben die Vermutung, dass diese Gerechtigkeitsdifferenz auch damit zu tun haben könnte, dass die Kinder in Berlin und Brandenburg erst nach der sechsten Klasse in die weiterführende Schule wechseln – also zwei Jahre länger zusammen beschult werden.

    Die Staatskanzlei jault

    Der Aufschrei aus Bayern folgte auf dem Fuß: »Skandall!« brüllte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. »Einseitig, fragwürdig und methodisch verfehlt«, so echote es beleidigt aus der Münchner Staatskanzlei. Dass könnte daran liegen, dass die Bayern nicht verstanden haben, dass die Studie die Chancengleichheit misst, aber nicht das Leistungsniveau der Schüler. Leistungsmäßig deuten in der Tat die meisten Ländervergleiche darauf hin (zuletzt der aktuelle Bundesbildungsbericht), dass das Leistungsniveau in Deutschland zwar insgesamt stark gefallen ist, dass Bayerische Schüler indessen immer noch relativ mit besten Leistungen auf das Leben vorbereitet werden. Schlusslichter des Leistungsrankings dagegen sind Berlin, Brandenburg und Bremen – ausgerechnet jene Bundesländer, in denen Chancengleichheit deutlich besser realisiert wird als in Bayern und Sachsen.

    Beide Aussagen passen gut zusammen, oder? Zwar steht Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich schlecht da (Pisa, TIMSS, Bundesbildungsbericht). Auf diesem bescheidenen Niveau befinden sich aber offenbar zwei Modelle im Wettbewerb: Ein egalitäres System (Berlin, Brandenburg) führt zu mehr Chancengleichheit, ein elitäres Modell (Bayern, Sachsen) bietet dagegen ein höheres Leistungsniveau, lässt dafür aber Unterschichtskinder eher links liegen.

    In einer idealen Bildungswelt müssten hohes Leistungsniveau und Chancengleichheit kein Widerspruch sein. Anschauungsbeispiele, wie das geht, kann man sich in Schweden holen. Doch man stelle sich für einen Augenblick vor, ein zentralistisches Bildungssystem müsste sich zwischen elitär und egalitär entscheiden. Sechs Jahre Grundschule in ganz Deutschland? Der Aufschrei wäre mindestens so laut, als hätte man früher alle protestantischen Schüler in katholische Ordensschulen gezwungen.

    Vielleicht könnten ja beide Modelle innerhalb eines Bundeslandes angeboten werden? Eltern könnten sich dann am Ort zwischen egalitär und elitär entscheiden. G8 und G9 gab es auch eine Zeitlang parallel. Oder ist das jetzt schon wieder blauäugig?

    Fazit: Bildungsföderalismus bietet mehr Vielfalt, leider aber kein Optimum.

    Rainer Hank