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  • 02. Juni 2020
    Lob der Kleinstaaterei

    Flickenteppiche können schön sein. Foto Pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Corona macht die Kosten der Zentralisierung sichtbar

    Fusionen von Staaten sind im internationalen Vergleich die Ausnahme und nicht der Normalfall. In der Nachkriegszeit hat sich die Zahl der Nationen fast verdreifacht – von 74 im Jahr 1946 auf 193 unabhängige Staaten heute. Da gibt es die Großen (China mit knapp 1,4 Milliarden Einwohnern) und Tuvalu (ein souveräner Inselstaat im Stillen Ozean mit 10 000 Bürgern). Verantwortlich für diese Vervielfältigung ist zum einen die Entkolonialisierung, zum anderen der Zerfall des ehemaligen Sowjetimperiums und dessen Folgen (die friedliche Teilung der Tschechoslowakei und das kriegerische Zerbrechen Jugoslawiens).

    Die wundersame Vermehrung der Staaten ist vielen nicht präsent. Wir denken gerne, kleine Länder haben es schwer, größere Staaten sind Trumpf. Das Gegenteil ist richtig: Unter den reichsten Ländern dieser Welt mit den zufriedensten Menschen sind auffallend viele kleine Länder (Norwegen, Schweiz, Singapur). Als Staaten wie Slowenien, Montenegro oder Georgien sich für unabhängig erklärten, gaben viele Beobachter ihnen wenig Überlebenschancen. Jetzt halten sie sich schon seit bald dreißig Jahren.
    An die Staatenvielfalt zu erinnern hat einen Anlass: Seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es eine Erzählung, die besagt, Europa müsse viel enger zusammenrücken, um künftige Krisen solidarischer zu bewältigen als es jetzt geschehen sei. Als Kanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vor zwei Wochen ihr 500–Milliarden-Euro-Wiederaufbauprogramm verkündeten, schwang diese Erzählung explizit mit. »Wir müssen ernsthaft über das sprechen, was Europa jetzt nicht ausreichend konnte und was die Zukunft der Europäischen Union ausmachen wird: Das kann ein sehr viel engeres Zusammenrücken einschließen«, sagte Angela Merkel und brachte künftige Vertragsveränderungen ins Spiel. Das von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zuletzt auf 750 Milliarden Euro großzügig aufgestockte sogenannte Wiederaufbauprogramm (was eigentlich wurde zerstört?), zu dessen Finanzierung die EU sich als Ganzes verschulden wird, ließe sich dann als vorweggenommene Fiskalunion interpretieren auf dem Weg von einem Staatenbund zu einem europäischen Bundestaat.

    Alberto Alesina über die optimale Staatsgröße

    Wollen wir das wirklich? Vor dem Hintergrund der trendmäßigen Vervielfältigung der Staaten der Welt müsste zumindest die Frage der Legitimation dieses Fusionswegs beantwortet werden. Gewiss, die europäischen Staaten müssen nicht nachmachen, was alle anderen machen, aber sie müssten doch über die gängige historische Erklärung – Friedensprojekt – hinaus auch noch eine nüchtern ökonomische Antwort nach Nutzen und Kosten einer immer engeren Union geben.

    Um die Frage nach dem Nutzen von größeren Staatsgebilden zu beantworten, bräuchte man Kriterien, die besser sind als das imperiale Bauchgefühl, wonach groß immer besser ist als klein. Die beste Kriteriologie stammt von dem Harvard-Ökonomen Alberto Alesina. Ich will heute an diesen großen Forscher erinnern: am vergangenen Samstag ist er, nur 63 Jahre alt, völlig überraschend nach einem Herzschlag in Cambridge/Mass. gestorben. Von Alesina stammen viele wichtigen, häufig provokanten Bücher (zum Beispiel über den Ertrag einer guten Austeritätspolitik). Er hat auch – auf Italienisch! – ein schönes Plädoyer geschrieben, dass und warum die Linken den Wirtschaftsliberalismus lieben müssten. Sein unter Politikwissenschaftlern mehr als unter Ökonomen rezipiertes Hauptwerk aber dreht sich um die optimale Größe eines Staats: The Size of Nations (2003).

    Was ist die optimale Größe eines Staates? Für größere politische Einheiten sprechen Skaleneffekte: Die Bereitstellung öffentlicher Güter wird für die Bürger um so günstiger, je mehr Bürger dafür zahlen. Eine öffentliche Verwaltung, wenn sie effizient arbeitet, muss eine gegebene Zahl von Staatsdienern nicht erweitern, einerlei ob sie Steuern von fünf oder von fünfzehn Millionen Bürgern einzieht. Die Pro-Kopf-Kosten eines öffentlichen Gutes sinken also mit wachsender Staatsgröße. Ein größerer Staat kann mehr Sicherheit (ein größeres Heer, dickere Panzer, solideren Grenzschutz) anbieten, ebenfalls zu geringeren Preisen.

    Gäbe es nur Größenvorteile, müssten alle Regierungen den Drang entwickeln, zum Weltreich zu werden. Das wäre dann eine ökonomische Legitimation des Imperialismus. Doch den Vorteilen der Größe stehen Kosten der Integration gegenüber. Je größer ein Staat, umso mehr nimmt seine innere Vielfalt und Heterogenität zu: Sprache, Rasse, Tradition, Einkommen können höchst unterschiedlich und ungleich verteilt sein, woraus sich für die innere Einheit eines Landes ein immer größeres Risiko ergibt. Arme Reichsteile verlangen nach Transfers und drohen mit Aufruhr und Austritt im Falle der Nichterfüllung. Reiche Teilregionen weigern sich, mit ihren Steuern dauerhaft die armen Landesteile zu finanzieren oder für die dazu nötigen Schulden zu haften. Auch sie drohen mit Austritt. Deshalb muss ein guter Staat einen Ausgleich aus Kosten und Nutzen hinkriegen: Seine optimale Größe wäre genau dann erreicht, wenn sich der Nutzen seiner Größe und die Kosten seiner Heterogenität die Waage hielten.

    Jefferson ist besser als Hamilton

    Nun ist die Gleichgewichtsformel Alberto Alesinas natürlich ein theoretisches Konstrukt einer idealen Welt. Geschichte und Politik sind dagegen ein lebendiger Prozess in einer realen Welt. Doch die Vervielfältigung der Staaten seit 1945 zeigt zumindest, dass viele Nationen intuitiv die Integrationskosten eher hoch, die Skaleneffekte eher geringer einschätzen. Der Brexit (»Take back control«) oder der Separatismus der Katalanen lassen sich als empirische Signale werten dafür, dass auch in der EU eine Opposition sich regt, der die Transferkosten zu hoch sind und die nicht bereit sind, noch mehr nationale Souveränität abzugeben. Als die kleineren Länder Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden am vergangenen Wochenende einen Gegenvorschlag zum Macron-Merkel-Paket präsentierten, war sogleich giftig von den »geizigen Vier« die Rede. Dabei hatten diese Länder nur Zweifel angemeldet, ob Schuldenvergemeinschaftung und Transfergeschenke wirklich zu mehr Integration führen. Dass alle Länder gleichermaßen unverschuldet Opfer von Corona wurden, ist zwar richtig. Doch für ihre sehr unterschiedliche fiskal- und wirtschaftspolitische Resilienz (Haushalt, Schuldenquote, Gesundheitssystem) sind sie sehr wohl selbst verantwortlich.

    Es gibt nach Alberto Alesina zwei Visionen von Europa. Mit Blick auf den Prozess der amerikanischen Staatswerdung spricht er von einem Hamilton- und einem Jefferson-Weg. Über das nach Alexander Hamilton benannte Moment der Integration ist zuletzt viel geredet worden: Die Zentrale übernimmt die Schulden der Länder, und verlangt dafür mehr Kompetenzen. Am Ende stünden die Vereinigten Staaten von Europa mit Zentralregierung und Steuergewalt über alle EU-Bürger. Thomas Jefferson und erst recht die sogenannten Anti-Federalists vertraten die Gegenposition: Sie warben für einen dezentrale Union mit großer wirtschaftlicher Autonomie der Teilstaaten. Alberto Alesina, ein Italiener, der sich als leidenschaftlicher Europäer verstand, hat sich auf die Seite Jeffersons gestellt.

    Rainer Hank