Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen08. März 2023
Lieber tot als SklaveWas uns die Freiheit wert ist.
Herr Dr. Schülke, unser Deutschlehrer, ließ uns gerne Aufsätze schreiben zu ethischen Entscheidungsfragen. Es kam ihm darauf an, uns beizubringen, dass es wichtig ist, eine »Haltung« einzunehmen. Zugleich bestand er darauf, dass die Haltung Argumente für den eigenen Standpunkt braucht und Gegenargumente nicht einfach unter den Tisch fallen dürfen.
»Lieber tot als Sklave« (»lewwer duad üs slaav«) war so ein Entscheidungsthema für einen Aufsatz. Die Zeile entstammt der Ballade »Pidder Lüng« des Dichters Detlev von Liliencron (1844 bis 1909). Die geht, kompakt zusammengefasst, so: Pidder Lüng war ein armer Inselfischer; seine Fänge reichten kaum zum Leben. Aber er war auch ein freier und stolzer Mann. Als eines Tages der Amtmann von Tondern mit seinen Söldnern kam, um die Steuern einzutreiben, traf er Pidder Lüng bei seinem kargen Mahl an. Der Amtmann forderte die sofortige Zahlung der Steuern. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, spuckte er in Pidder Lüngs Kohlgericht. Daraufhin wurde Pidder so zornig, dass er den Amtmann ergriff und ihn mit seinem Gesicht im heißen Kohltopf erstickte. Dabei rief er einen alten friesischen Freiheitsspruch: »Lewwer duad üs Slaav!« Die Söldner des Amtmanns erschlugen Pidder Lüng und die Seinen. Doch sein Freiheitsruf »Lieber tot als Sklave« überlebte.
Im kalten Krieg, jener Zeit, in der ich aufgewachsen bin, wurde Pidder Lüngs Freiheitsbekenntnis gerne in sein Gegenteil verkehrt. Den antikommunistischen Ruf »Better dead than red.« hatte die Friedensbewegung der siebziger und achtziger Jahre in »Lieber rot als tot« verkehrt. Soweit ich mich erinnere, hatte ich mich dieser Haltung damals in meinem Schulaufsatz angeschlossen: Das (Über)leben sei wichtiger als die Freiheit, so meine Meinung: Denn was wäre das ganze Pathos wert, wenn die Freiheit nur um den Preis des Todes zu haben wäre.
Pidder Lüng
Die deutschen Debatten der vergangenen Wochen haben mich an meinen Deutschlehrer und Pidder Lüng erinnert. Die neue (und alte) Friedensbewegung von Sarah Wagenknecht bis Jürgen Habermas, der sich ungefähr die Hälfte der Deutschen anschließt, nimmt zumindest als Konsequenz ihrer Haltung in Kauf, dass der Osten der Ukraine als Ergebnis von Friedensverhandlungen okkupiert bliebe und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer mit Füßen getreten würde. Friede geht vor Freiheit, auf diese Formel lässt sich der Neopazifismus zusammenfassen, der das Argument auf seiner Seite hat, dass nach einem Nuklearkrieg am Ende alle tot und also auch nicht mehr frei wären. Einer der schwächsten Punkte dieser Haltung ist freilich die Annahme, ein Verhandlungsergebnis führe in den von den besetzten Gebieten tatsächlich zum Frieden und nicht – wie die Geschichte vielfach lehrt – zu weiterem Morden, weil aus brutalen Aggressoren nach Verhandlungen nicht plötzlich Friedensengel werden. Am Ende bleibt dann nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben derer auf der Strecke, denen mit einem Kompromiss die Freiheit genommen würde. Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft und wehrhafter kalter Krieger in den fünfziger Jahren, warnte vor »Atomschlotterern, die vor Angst nicht mehr denken können« und ihrem Pazifismus, »der nur die Alternative zwischen zwei Formen des Weltuntergangs kennt: Unterwerfung unter kommunistische Weltherrschaft oder ein dritter Weltkrieg.«
Heute würde ich, anders als damals als Schüler, die Freiheit als obersten Wert zu begründen suchen. Doch damit fängt die Arbeit gedanklich erst an. Was meinen wir mit Freiheit? Und warum hat die Freiheit – jenseits von Sonntagsreden des Bundespräsidenten – so wenige Freunde?
Augenscheinlich meinen nicht alle das Gleiche, wenn sie für Freiheit plädieren. Anhänger der Republikaner in den USA, nur als Beispiel, würden sagen, das Recht auf Waffenbesitz sei ein Freiheitsrecht, was gar nicht falsch ist: Denn ein Verbot, Waffen zu besitzen, schränkt die persönliche Freiheit ein, auch wenn sich das Verbot mit dem Gewaltmonopol des Staates legitimiert, der Leib und Leben seiner Bürger zu schützen beansprucht. Anhänger der Demokraten in den USA würden das Recht auf Abtreibung als Freiheitsrecht für sich beanspruchen, was ebenfalls nicht falsch ist: Denn ein Abtreibungsverbot schränkt die persönliche Freiheit der Frauen ein, auch wenn dieses Verbot für sich ins Feld führt, das einem Schwangerschaftsabbruch entgegenstehende Freiheitsrecht des Ungeborenen zu vertreten.
Freiheit sei eben kein Freibrief, schrieb die Tübinger Philosophin Sabine Döring vergangene Woche in einem FAZ-Artikel. Und berief sich auf den liberalen Denker John Locke. Sichtbar wird hier, dass die Freunde der Freiheit es mit zwei gefährlichen Versuchungen zu tun bekommen. Nennen wir die eine die paternalistische oder pazifistische Verführung, die andere die egoistische. Was paternalistische Verführung anrichtet, ließ sich in den Jahren der Pandemie beobachten. Da hat sich der Staat paradoxerweise angemaßt, unsere Freiheit zu schützen, indem er meinte, er müsse unsere Freiheit unterbinden – und zwar gewaltig: Eine »Bundesnotbremse« regelte minutiös, wer sich mit wem wann treffen darf, nämlich kaum noch jemand. Einige Corona-Verordnungen schrieben weiträumig das Tragen von Masken im Außenbereich vor, auch beim Joggen im Park, weil man sich angeblich im Vorbeilaufen hätte infizieren können. Eine »Unwucht zulasten der Freiheit« konstatiert der Münsteraner Verfassungsrechtler Oliver Lepsius. Vergleichbar nimmt die pazifistische Verführung aus Angst vor dem Weltuntergang den Freiheitsuntergang in Kauf (siehe Röpke).
Zwei Verführungen der Freiheit
Die egoistische Freiheitsverführung lässt sich als Gegenbewegung gegen die paternalistisch-pazifistische Verführung deuten. Sie findet sich bei anarchisch Libertären und bei Querdenkern jeglicher Couleur und zeichnet sich durch eine fundamentale Ablehnung jeglicher Einschränkung aus, auch dann, wenn diese Einschränkungen die Freiheitsrechte anderer zu sichern beanspruchen. Einiges spricht dafür, dass der Begriff der Freiheit zuletzt gerade von aggressiven Corona-Leugnern und Querdenkern empfindlich demoliert wurde. Darunter sind mutmaßlich und abermals paradoxerweise nicht wenige, die, wenn es jetzt um die Ukraine geht, für Friedensverhandlungen plädieren, die Freiheitsverluste in Kauf nähmen.
Ein Liberalismus, der es ernst meint, muss sich auf Abwägen und auf Argumente der Verhältnismäßigkeit einlassen. Doch die Freiheit hat stets Vorrang. Die Beweislast hat der, der die Freiheit mit welchen politischen (»Manifest für Frieden«), ökonomischen (»das Gemeinwohl«) oder wissenschaftlichen Argumenten (»follow the science«) einschränken will. Dagegen ist stets jene »negative Freiheit« zu verteidigen, die den Paternalisten und Paziristen aus guten Gründen unterstellt, sie präferieren Zwang und unterschlagen Freiheit. Diese Freiheit darf weder geopolitischen noch pazifistischen oder paternalistischen höheren Zielen geopfert werden.
Rainer Hank