Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen21. Januar 2025
Leben in der TikTok-ÄraLesefähigkeit verkümmert. Bilder-Glotzen boomt
Zur Jahrtausendwende habe ich in der – neuen – Hauptstadt Berlin gelebt. Wenn ich morgens mit der S-Bahn unterwegs war, konnte ich die anhaltende Teilung der Stadt an der Zeitungslektüre erkennen: Der Ost-Mensch las die »Berliner Zeitung«, 1945 gegründet als »Organ des Kommandos der Roten Armee«. Im Westen wurde der »Tagesspiegel« gelesen, ebenfalls 1945 gegründet unter der Lizenz der »Information Control Division« der US-Militärregierung. Damals, nur zur Erinnerung, hatte fast jeder S-Bahn-Fahrgast eine Zeitung vor der Nase. Die Ohren der Bahnfahrer waren damals noch podcastfrei, sieht man einmal von den »Walkman« genannten Ungetümen der Firma Sony ab.
Zehn Jahre später, so um das Jahr 2010, war alles anders. Gedruckte Zeitungen verschwanden mehr oder weniger aus dem S-Bahn-Bild. Der Siegeszug der Mobiltelefone hatte sie verbannt. Mit einigem Wohlwollen konnte man annehmen, dass die einen auf ihren Handys »Tagesspiegel« lasen, die anderen »Berliner Zeitung«. Oder die FAZ. Man weiß das ja nicht. Der Leser der gedruckten Zeitung outet sich und seine Präferenzen vor seiner Mitwelt. Der Nutzer des Smartphones outet sich seinen Followern im Netz.
Inzwischen hat sich die Welt abermals gedreht: vom Text zum Bild. Das ist eine viel tiefgreifendere Veränderung als der Übergang von einer analog-physischen zu einer digital-virtuellen Welt. Kunstwissenschaftler nennen das den »iconic turn« (von »eikon«, griechisch »Bild«). Damit gemeint ist die wachsende Dominanz von Bildern und visuellen Medien in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Bilder erschließen sich viel leichter als Texte -, aber auch sie müssen interpretiert und verstanden werden. Doch macht es einen großen Unterschied, eine Novelle Heinrich von Kleists oder einen FAZ-Leitartikel zu verstehen oder exotische Fotos auf Instagram und Katzen-Videos auf Tiktok.
Dazu gibt es jetzt empirische Daten. Ich entnehme sie meiner Lieblingskolumne »Data Points«, die regelmäßig in der »Financial Times« erscheint. Bis etwa 2015 haben die meisten Menschen die Neuigkeiten über das Weltgeschehen direkt aus Zeitungen, Radio, Fernsehen bezogen, sei es analog-physisch (Papier), sei es digital-virtuell (Bildschirm). Der Anteil der Menschen, die diese klassischen Nachrichtenkanäle nutzen, ist von 2015 bis heute von 70 auf 50 Prozent geschrumpft ist. Im selben Zeitraum wuchs die Gruppe jener, die ihr Wissen über die Welt indirekt und gefiltert über soziale Medien ihrer »Freundesgruppen« beziehen, von 30 auf knapp 50 Prozent. Die Zahlen stammen aus den USA; das Verhalten der Menschen in Europa dürfte davon nicht nennenswert abweichen. Schon dies hat gravierende Konsequenzen: X &Co. reduzieren die Welt auf wenige Buchstaben und neigen zur Zuspitzung. Am Ende bleibt dann nur hängen, Elon Musk fände, die AfD sei die Rettung für Deutschland. Solche Sachen halt.
»Iconic turn«
FAZ-Artikel und Tweets auf X sind Texte. Die Art und Weise wie wir ihren Sinn verstehen, gleichen sich. Wir müssen Buchstabenfolgen (Zeichen) in Bedeutung (Sinn) übersetzen. Doch nun kommt der »iconic turn« ins Spiel, der sich etwa seit gut fünf Jahren in den Zahlen spiegelt. Während unter jungen Menschen soziale Textmedien (X, Facebook) an Relevanz verlieren, nimmt die Zahl der Nutzer bei Bildmedien (Tiktok, Instagram) exponentiell zu. Junge Menschen haben Bilder und Filme lieber als Texte. Tiktok, eine Welt kurzer intensiver und emotional aufgeladener Videoschnipsel, mag ein soziales Netzwerk genannt werden wie X wegen des mit Followern bevölkerten Plattformcharakters. Es ähnelt aber als Medium bewegter Bilder eher Netflix als Facebook. Tiktok hat inzwischen weltweit 1,7 Milliarden User, Tendenz steigend. Über 80 Prozent der Teenager in England nutzen Youtube, Tiktok, Snapchat oder Instagram. Facebook ist inzwischen nur noch für 30 Prozent von ihnen relevant, X liegt bei 10 Prozent (armer Elon Musk!). Das ist der »iconic turn«.
Bei Tiktok bin auch ich seit ein paar Jahren – passiv, ein Schläfer. Ich habe jetzt wieder reingeschaut und bekam eine für mich wirre Vielfalt von Clips mit meist flacher Pointe geleifert. Der Sog dabeizubleiben entsteht durch das kontinuierliche Weiterwischen von Clip zu Clip: Auf Katzenvideos folgt Alice Weidel, die mich auffordert, AfD zu wählen und mich dazu mit einem Herzchen zu bekennen. Zeitungen und Textplattformen profilieren sich mit »News«, mit Neuigkeit, die sich abheben vom Altbekannten. Auf Tiktok und Insta heißt die Währung, die zählt, Charisma und Energie: Der Erste zu sein ist weniger relevant als hyperengagiert zu sein, sagen uns die Medienwissenschaftler. Tiktok lebt von der Inszenierung und Performativität: Die Nutzer stellen die virtuelle Welt in ihrer realen Welt nach. Sie schaffen sogenannte Memes – kurze Bildbotschaften, die eine Idee, einen Witz oder ein Gefühl oft auf den ersten Blick anschaulich machen und massenhaft viral weiterverbreitet werden.
Kulturpessimismus hilft nicht weiter
Man hat Tiktok & Co. soweit ich sehe, bislang immer nur unter zwei Rücksichten diskutiert: Politikwissenschaftlich wurde vielfach festgestellt, dass die Plattformen sich dazu eignen, von populistischen Parteien wie der AfD gekapert und instrumentalisiert zu werden. Dem haben die Parteien der Mitte nichts entgegenzusetzen. Neurowissenschaftler belehren uns, dass der dauerhafte Konsum kurzer Videos Hirnstrukturen verändern kann und zum Beispiel die Empathiefähigkeit schwächt. Beides mündet dann rasch in einen Kulturpessimismus und die Forderung des Handyverbots aus pädagogischen oder politischen Gründen. Ob das durchsetzbar wäre, selbst wenn es wünschenswert wäre, bezweifle ich.
Der soziologische oder, hochgestochen, epistemologische Wandel der Wirklichkeitsbegegnung vom Text zum Bild ist dagegen noch kaum in den Blick geraten. Wäre es nicht klug, eine derart fundamentale Zäsur erst genauer verstehen zu suchen, bevor recht hilflos nach Verboten gerufen wird? Das Konzept des »Iconic Turn« könnte hier weiterhelfen. Es entstammt dem wegweisenden Aufsatz des Basler Kunstwissenschaftlers Gottfried Boehm über die »Wiederkehr der Bilder« aus dem Jahr 1994. Boehm konnte Tiktok nicht kennen. Er dachte wohl eher an Piet Mondrian oder Yves Klein. Doch die These des Iconic Turn, wonach Bilder nicht nur auf etwas anderes verweisen, sondern aktiv Bedeutung erzeugen und zur Nachahmung anregen, könnte von Tiktok und Instagram kaum besser veranschaulicht werden.
Parallel gibt es übrigens auch einen »akustic turn«. Den erkennt man an den weißen Stöpseln (airpods), die vielen Menschen inzwischen aus den Ohren wachsen. Früher haben wir gemeinsam Radio gehört. Heute ist jeder in seiner Hörwelt frei, aber allein. Podcasts zur hören ist wie Videos gucken weniger anspruchsvoll als Texte zu lesen.
Rainer Hank