Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen18. Januar 2021
Kommen jetzt die Roaring Twenties?Das wird lustig, wenn Corona endlich vorbei ist
In Zeiten des Lockdowns haben wir viel Muße zu sinnen, wie die Welt aussehen wird, wenn diese Pandemie vorbei ist – oder wenigstens so viele Menschen geimpft sein werden, dass ein normales Leben möglich sein wird. Ich jedenfalls, der ich nie ein großer Fernreisender war, sehe mich mehrere Wochen in Südafrika verbringen und anschließend den Lockrufen derer nachzugeben, die mir immer schon von Neuseeland vorschwärmten. In der Nacht sind meine Träume derart bevölkert, dass ich mir beim Aufwachen große Feste vorstelle mit noch den entferntesten Bekannten. Der Caterer bekommt, meinem schwäbischen Naturell zum Trotz, den Auftrag, richtig in die Vollen zu gehen. Später dann schließen sich mindestens zwei Wochen New York an, wo kein einziger Konsumwunsch unerfüllt bleiben soll. Ein Paradox des Corona-Zeit besteht ja darin, mehr Geld zu haben als wir ausgeben können. Vornehm gesagt: Die Konsummöglichkeiten hinken den verfügbaren Einkommen hinterher.
Höre ich mich bei Freunden um, die bislang nicht dafür bekannt waren, das Geld mit vollen Händen auszugeben, scheint es denen ähnlich zu gehen. »Wir wollen es krachen lassen und mit allen Schikanen essen gehen«, whatsappt eine Berliner Freundin. Es ist, als ob wir uns kollektiv zu einer Art von Belohnungskonsum berechtigt fühlen. Käme es so, hätte die Sause den nicht zu verachtenden Nebeneffekt, dass wir uns um die Konjunktur nach Corona keine Sorgen machen müssten: An unserer aggregierten Nachfrage wird es nicht scheitern. Am Angebot wohl auch nicht, denn anders als nach Kriegszeiten können Fabriken und Geschäfte auf der Stelle hochgefahren werden, wenn der Spuk vorbei ist.
Was spricht dafür, dass wir einen derartigen Boom erleben werden? Hört man sich um, so teilen sich die Prognostiker etwa halb und halb in Pessimisten und Optimisten auf. James Rickards etwa, ein sehr erfolgreicher amerikanischer Untergangsprophet, sieht die Welt auf direktem Weg in eine neue »Große Depression«. Hat er recht, wird uns nichts erspart bleiben: Deflation, Schuldenchaos, Arbeitslosigkeit und demographische Verwerfungen lassen uns in seinen Büchern jetzt schon in Abgründe blicken. Rickards beruft sich auf die renommierte Harvard-Ökonomin Carmen Reinhart, die der Ansicht ist, die Zeit nach Corona werde den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ähneln. Das kann heiter werden.
Reaktion auf die Spanische Grippe
Gottlob finden sich auch Optimisten. Nicholas Christakis, ein an der Universität Yale lehrender Sozialwissenschaftler, deutet die »Roaring Twenties« des 19. und 20. Jahrhundert als eine Reaktion auf die Spanische Grippe 1918 bis 1920. Wer damals erlebt hat, welchen Verzicht kultureller Ausdrucksmöglichkeiten mehrere Lockdowns bedeuten, entwickelte vitale Kräfte, das Leben in vollen Zügen zu spüren. Dem schließt sich Klaus Kaldemorgen an, ein erfahrener Fondsmanager Deutschlands: »In den Goldenen Zwanzigern gab es einen gewaltigen Börsenaufschwung, nachdem die spanische Grippe überwunden war«, sagt er im Gespräch mit der F.A.S.
Alles hängt davon ab, ob wir als Referenzjahr zu heute wie die Pessimisten das Jahr 1930 nehmen oder wie die Optimisten das Jahr 1920. Stehen wir – wirtschaftshistorisch gesehen – vor den Zwanziger- oder den Dreißigerjahren? Wenn mein »Wunschdenken« die Realität bestimmen könnte, wüsste ich, wie es ausgeht. Wer Recht hat, wissen wir erst in zehn Jahren. Aber nach spekulativen Plausibilitäten können wir fahnden.
Nachfrage bei Harold James, einem Professor der Universität Princeton, der viel über die Wirtschafts- und Finanzgeschichte des 20. Jahrhunderts geforscht hat. Harold James outet sich als Optimist. »Wir werden die Segnungen der Globalisierung zurückgewinnen«, mailt er mir und verweist auf seine Forschungen zur Frage, wie sich die Wirtschaft nach sogenannten Angebotsschocks entwickelt hat. Allemal, so das Resultat des Wissenschaftlers, wurde die weltweite Vernetzung der Wirtschaft nach solchen Krisen nicht etwa beschnitten, sondern sogar noch ausgeweitet – mit positiven Auswirkungen für den Wohlstand der Menschen.
Return to Normality
Dieser Wohlstandsgewinn lässt sich an der Dekade zwischen 1920 und 1929 im Detail nachzeichnen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde 1921 zum Präsidenten gewählt mit dem Slogan »Return to Normality«, zurück zur Normalität. Damit traf er offenbar einen Nerv der Zeit, ein optimistisches Grundgefühl eben. Die Wirtschaft entwickelte sich prächtig. Die Amerikaner, bis dahin eher calvinistisch-sparsam, entwickelten große Freude am Geldausgeben und hatten auch keine Scheu, auf Pump zu konsumieren. Henry Ford kam kaum mit der Fließbandfertigung seines T-Modells kaum nach. Waschmaschinen, Kühlschränke, Bügeleisen und Nähmaschinen galten unter den Hausfrauen als der neueste Schrei. Die Erfindung der Werbung sorgte dafür, dass die neuen Produkte auch überall im Land bekannt und als begehrenswert erachtet wurden. Vor dem Krieg hatten sich nur die Reichen Aktien geleistet, jetzt wurde die amerikanische Börse ein Tummelplatz für jedermann. Teure Mode verführte Männer wie Frauen. Das öffentliche Leben blühte überall auf. New York wurde zur Hauptstadt des Jazz (Louis Armstrong, Duke Ellington); Hollywood entwickelte sich zur Welthauptstadt der Filmindustrie. Wer es genauer haben will, braucht bloß »The Great Gatsby«, den 1925 veröffentlichten Roman von F. Scott Fitzgerald zu lesen.
Das Deutschland der zwanziger Jahre war alles in allem nicht ganz so glamourös. Aller heutigen Mythen zum Trotz war Berlin kein Babylon. Autos oder Haushaltsgeräte für jedermann gab es erst im Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg. Das Wohlstandsgefälle zwischen Amerika und Deutschland war viel größer als heute Aber gleichwohl: Auch Deutschland blühte auf, und das war nicht nur eine Scheinblüte, wie manche Historiker meinen. Schon bald waren Produktion und Einkommen wieder auf das Vorkriegsniveau angestiegen. Massenkonsum und Massenunterhaltung wurden zur Signatur der Zeit; zugleich leisteten es sich die Deutschen, Bismarcks Sozialstaat weiter auszubauen.
Natürlich können die zwanziger Jahre in Deutschland und Amerika nicht zur Blaupause für unsere Zeit übernommen werden. Vor allem fehlen uns heute die in die Massenproduktion eingehenden technischen Innovationen von damals; der zu erwartende Digitalisisierungsschub nach Corona wird das nicht leisten. Aber das optimistische Grundgefühl könnte jener positiven Stimmung von damals ähneln. Stimmungen und Gefühle als Konjunkturtreiber – die berühmten »animal spirits« von John Maynard Keynes – sollte niemand unterschätzen.
Beckmesser werden jetzt daran erinnern, wie die zwanziger Jahre endeten: mit einem schlimmen Börsencrash im Oktober 1929, gefolgt von Schuldendeflation, Bankenkrise, Arbeitslosigkeit, den barbarischen Nazis und einem schrecklichen Krieg. Doch Geschichte muss sich ja nicht komplett wiederholen. Wir – geleitet von klugen Fiskal- und Geldpolitikern – hätten ja noch bis 2029 Zeit dafür zu sorgen, dass es dieses Mal besser endet. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, wenn ein deutscher Kanzlerkandidat des Jahres 2021 – ähnlich wie damals Warren G. Harding – mit dem Wahlspruch »Auf in die wilde Normalität« in den Kampf zöge. Meine Stimme hätte er.
Rainer Hank