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  • 25. Juli 2024
    Königsmord

    Der »Marktgraf« Otto Graf Lambsdorff (1926 bis 2009) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lambsdorffs Putsch – und was das für heute bedeutet.

    Nachdem die Koalitionsparteien im Laufe des Jahres 2024 auch noch mehrere Landtagswahlen verloren haben, war der Zerfall der Regierung nicht mehr aufzuhalten. Die Differenzen zwischen den Parteien traten immer schärfer hervor. Die Orientierung der FDP an einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und die Ausrichtung der SPD auf staatliche Investitionslenkung und Wirtschaftskontrolle waren miteinander nicht vereinbar.

    Der Rest war politisches Showgeschäft. Während Lindner mit der Union über einen Koalitionswechsel verhandelte, bezichtigte Scholz die FDP wirkungsvoll des »Verrats« und nahm bei seinem Abgang bereits jene Rolle des parteiübergreifend agierenden Staatsmanns ein, die er in den darauffolgenden Jahren spielen würde. Am 1. Oktober 2024 wurde Friedrich Merz (CDU) durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt.
    So könnte es kommen. Und so war es: Ersetzt man das Jahr 2024 durch 1982 und die Namen Lindner, Scholz und Merz durch Lambsdorff (FDP), Schmidt (SPD) und Kohl (CDU), so stammt alles wörtlich aus der »Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert« des Historikers Ulrich Herbert. Einzig die Behauptung, dass Ex-Kanzler Scholz nach seinem Sturz weiterhin als Besserwisser vom Dienst noch wahrgenimmen würde, wäre zu überprüfen.

    Zur »Wende« geführt hatte ein Papier, in welchem der liberale Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff auf Bitten von Kanzler Helmut Schmidt seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zusammenfasste, die sogleich öffentlich wurden. Lambsdorffs Analyse sah zwar auch internationale Ursachen für die langanhaltende Konjunkturschwäche, benannte aber vor allem den Rückgang der Investitionen und den Anstieg der Staatsquote als zentrale binnenwirtschaftliche Verursacher der Krise. Nicht zuletzt die Ausweitung des Sozialstaates seit Mitte der siebziger Jahre erkannte Lambsdorff als Bürde. Seine Folgerungen: Konsolidierung des Haushalts, eine stärker marktwirtschaftlich ausgerichtete staatliche Politik, Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben von konsumtiver (Sozialetat) zu investiver (Infrastruktur) Verwendung und eine »Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Wachstumsbedingungen«. Nötig sei eine strenge Haushaltdisziplin. Womöglich erhoffte Helmut Schmidt von Lambsdorff Schützenhilfe gegen die eigene Partei. Faktisch wurde Lambsdorff mit dem Papier zum »Königsmörder«.

    Die Rolle von Hans Tietmeyer und Otto Schlecht

    Dass es Lambsdorffs »Manifest der Marktwirtschaft« nur partiell gelang, eine marktwirtschaftliche Erneuerung der Bundesrepublik voranzutreiben, wie der Freiburger Ökonom (und Berater von Finanzminister Christian Lindner) Lars Feld konstatiert, steht auf einem anderen Blatt. Das größte Versagen der Regierung Kohl lag in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die vom Koalitionspartner FDP nicht verhindert, noch nicht einmal gebremst wurde.

    Wie hat Lambsdorff sein »Manifest der Sezession« (Gerhard Baum) in derartiger Windeseile zu Papier bringen können? Die kurze Antwort heißt: Er hat es gar nicht selbst geschrieben. Es lag längst in seiner Schublade. Die Ehre der Urheberschaft gebührt zwei Ministerialen, die gar nicht der FDP angehörten. Sie heißen Otto Schlecht (parteilos, aber CDU-nah,1925 bis 2003) und Hans Tietmeyer (CDU, 1933 bis 2016). Von Otto Schlecht stammen Idee und Auftrag; Hans Tietmeyer ist der Autor des Textes.
    Die drei Männer waren nicht nur politisch sehr unterschiedlich. Während Lambsdorff aus altem baltischem und hardcore-protestantischem Adel stammt, kommen Schlecht und Tietmeyer aus eher »kleinen« Verhältnissen. Otto Schlecht wuchs in einer Metzgerei im schwäbischen Biberach auf. Hans Tietmeyer kommt aus dem katholischen Münsterland; sein Vater verwaltete als »Rentmeister« die Gemeindekasse von Metelen an der Vechte.

    Otto Schlecht arbeitete sein ganzes Berufsleben, 38 Jahre lang, im Bonner Wirtschaftsministerium und diente Ministern aus allen drei Parteien. Die »Welt« nannte ihn eine »Inkarnation der beweglichen Grundsätze«. Im Vergleich zu ihm war Tietmeyer ein prinzipienfester westfälischer Dickschädel – später wurde er der letzte Präsident der Bundesbank vor Errichtung der Europäischen Zentralbank.

    1982 war Otto Schlecht, der Ältere, Staatssekretär. Hans Tietmeyer leitete unter ihm die Grundsatzabteilung des Hauses. In einem Interview aus dem Jahr 2000 schildert Schlecht die Genese des »Lambsdorff-Papiers«: Schon Anfang 1982 habe der parlamentarische Staatssekretär Martin Krüner (FDP) ihm gegenüber geklagt: »Wir in der FDP wissen nicht mehr, wo es lang geht, wo man mit den Sozialdemokraten noch Kompromisse machen kann und wo man hart bleiben muss.« Krüner habe Schlecht gebeten aufzuschreiben, »wie die Sache jetzt eigentlich sein müsste, damit wir Orientierungsmaßstäbe für unsere praktische Politik haben«. Schlecht gab den Auftrag an Tietmeyer weiter: »Er hat einen sehr guten Entwurf gemacht, den wir dann durchgesprochen und redigiert haben.«

    Als sich die Krise in der Koalition zuspitzte, habe Kanzler Schmidt, so Schlecht, Lambsdorff angeherrscht: »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was Sie wollen. Schreiben Sie mir doch einfach mal auf, was Sie wollen.« Lambsdorff, der den Tietmeyer-Text kannte und billigte, antwortete: »Das können Sie postwendend haben« – und schickt das lediglich minimal redigierte Tietmeyer-Papier an den Kanzler.

    Die Pointe des Umsturzes von 1982 ist dreifach: Die Grundgedanken einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik, die ein FDP-Minister präsentierte, stammen nicht von liberalen Parteipolitikern, sondern von einem CDU-Beamten: entworfen aus dem Geist der katholischen Soziallehre (Subsidiarität und Eigenverantwortung), der Freiburger Schule (Walter Eucken, Wilhelm Röpke) und seiner sozialen Weiterentwicklung durch Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Joseph Höffner.

    Die zweite Pointe ist nicht weniger stark: Ein Papier mit streng ordnungspolitischen Maximen führte in eine Koalition, die sich um Ordnungspolitik wenig scherte (Kanzler Kohl: »Ich will Wahlen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen«) und statt einer geforderten Angebotspolitik den Sozialstaat weiter aufblähte (Norbert Blüm und die Einführung der Pflegeversicherung).
    Schließlich gibt es noch eine dritte Pointe: Erst unter der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders (SPD) setzte sich unter dem Namen »Agenda 2010« eine marktwirtschaftliche Wende durch – mit Erfolgen am Arbeitsmarkt bis heute. Am Ende hat, leicht überspitzt, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das von einem CDU-Mann verfasste und von FDP-Mann Lambsdorff in die Welt gesetzte Wende-Papier umgesetzt, das der sozialdemokratische Kanzler und »Weltökonom« Helmut Schmidt 1982 als »Verrat« der Koalition interpretierte.

    Rainer Hank