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  • 16. Mai 2019
    Kinderkreuzug

    Greta Thunberg ist viel unterwegs

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was Greta Thunberg mit fanatischen Kindern aus dem Mittelalter zu schaffen hat

    Zu Greta Thunberg, der sechzehnjährigen Klimaaktivisten aus Schweden, fällt mir nichts ein. So dachte ich – bis jüngst ein Bekannter das Wort vom »Kinderkreuzzug« in die Runde warf. Greta, so sollte das wohl heißen, führe einen Kreuzzug zur Rettung des Klimas, ähnlich fanatisch wie jene Kinder, die sich im Jahr 1212 zu Tausenden aus Deutschland und Frankreich aufgemacht hatten zur Befreiung Jerusalems von den Muslimen – eines der merkwürdigsten Ereignisse des europäischen Mittelalters.

    Das Fanatische an Greta ist ja gerade das Nicht-Empathische und Anti-Charismatische ihrer Erscheinung. Wie viele Autisten handelt sie hoch-moralisch, obwohl oder womöglich gerade weil ihr die Gabe der Einfühlung in andere abgeht. Sie lässt sich im Kampf für das Gute nicht irritieren vom Verständnis für die Schwachheit der CO2–ausstoßenden Kreatur. Greta macht die Erfahrung, dass sie etwas bewirken kann: Ihre politische Mission, so beschreibt es die Familie, wirkt auf sie selbst antidepressiv und quasi therapeutisch. Treffsicher benennt sie das Glaubwürdigkeitsdefizit der Politiker: Sie sagen das Eine und machen das Andere. Sie reden laut gegen den Klimawandel, weil das bei den Leuten gut ankommt, scheuen sich aber konkret zu werden, weil dann auch über die Kosten gesprochen werden müsste. Das derzeitige Gewürge um die CO2–Steuer zeugt davon. Für Politiker sind Ziele Gift, bei denen die Kosten kurzfristig anfallen, während der Nutzen erst langfristig sich einstellt.

    Greta lässt das nicht durchgehen. Sie antwortet auf Politikversagen mit Hypermoralisierung, die etwas Gnadenloses hat. Hypermoralisierung tendiert zu Vereinfachung und unfairer Schuldzuweisung: »Es gibt doch nur ein paar hundert Firmen, die für den gesamten CO2–Ausstoß stehen«, sagt Greta. Ein »paar wenige reiche Männer« hätten Tausende Milliarden damit verdient, dass sie den ganzen Planeten zerstören. Greta irritiert, fasziniert, und stößt zugleich ab. »Ich will, dass ihr in Panik geratet.«

    Eine religiöse Erweckungsgemeinschaft

    Ist das ein Aufruf zum Kreuzzug? Man kann es so sehen, sollte es sich freilich mit dem Begriff Kinderkreuzzug in keiner Weise leicht machen. Mein Gesprächspartner, der den Begriff in die Runde warf, ist weder ein Rechtspopulist noch ein Klimaleugner, der die von Menschen gemachte globale Erwärmung bestreitet. Der Mann hat eine ziemlich linke Vergangenheit und würde sich heute wohl der bürgerlich-liberalen Mitte zuordnen, darin verwandt dem ehemaligen Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust, der ebenfalls mit dem Begriff »Kinderkreuzzug« hantiert. Die Massenbewegung der »Fridays for Future« komme ihm vor wie ein »moderner Kinderkreuzzug« oder wie eine »beinahe religiöse Erweckungsgemeinschaft«, meinte Aust kürzlich. Man braucht sich dieser Debatte nicht versagen, bloß weil die AfD inzwischen Umwelt und Klima als Themen zur Erweiterung ihres migrations- und europapolitisch eingeengten Geschäftsmodells entdeckt hat. Der AfD-Einwand kommt als Totschlagargument immer mehr in Mode, so dass man am Ende auf die AfD eine Wut bekommt, weil sie dadurch erlaubte Spielzüge dem liberalen Diskurs entzieht.

    Doch wie weit trägt der Vergleich mit dem Kinderkreuzzug von 1212? Einer seiner Helden ist der fünfzehnjährige Stephan aus dem französischen Dorf Cloyes. Die Quellen beschreiben ihn als redegewandt und ausgestattet mit der Gabe, in kurzer Zeit zahlreiche Halbwüchsige zu begeistern für seine Idee, das Heilige Land von den Sarazenen, den islamisierten Völkern des Orients, zu befreien. In Paris betrachtete man Stephan als echten »Seher«. Er wurde vom König empfangen und predigte in Saint-Denis, der berühmtesten Abtei Frankreichs. Die Begeisterung für Stephans Unternehmen soll wie ein Lauffeuer um sich gegriffen haben, so sein Biograph Thomas Ritter. Stephan betrachtete sich als von Gott erwählt und berief sich auf die Erscheinung eines »Fremden«, in dem er Jesus von Nazareth erkannt haben will. Anders als ihre kreuzfahrenden Vorgänger widersetzten sich die Kinder des frühen 13. Jahrhunderts dem Kampf mit Waffen. Statt mit Schwertern rückten sie mit Posaunen los, die an die Einnahme von Jericho erinnern sollten. Ihre »Unschuld«, ein verbreiteter Topos, war die stärkste Waffe dieser Kinder.

    Religiöser und ökologischer Fanatismus sind – trotz acht Jahrhunderten Abstand – offenbar nicht sehr weit auseinander. Diejenigen, die von den Kreuzzüglern für ihr religiöses oder ökologisches Versagen angegriffen werden, wanzen sich flugs an sie heran. Kein Politiker traut sich heute noch, etwas gegen Greta und ihrer Freunde zu sagen. Der letzte, der das versucht hat, war FDP-Chef Christian Lindner. Es ist ihm nicht gut bekommen. Jetzt heißt die Devise: Durch lautes Zustimmen sich wegducken. Ganz so wie Papst Innozenz III. (1198 bis 1216) in Rom, der beim Erhalt der Kunde von den Kinderkreuzzügen gesagt haben soll: »Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, um das Heilige Land zu erobern.« Die Kinder kritisieren das Versagen der Eliten – und die Eliten haben nichts Eiligeres zu tun als ihnen Recht zu geben.

    Welterlöser oder dumme Jungs?

    Das ist noch nicht alles an Gemeinsamkeiten. Der Berliner Historiker Michael Menzel macht in einem spektakulären Aufsatz über die »Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht« (In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, 1999) darauf aufmerksam, dass schon die Zeitgenossen in zwei unversöhnliche Lager gespalten waren. Während die einen in den Kindern die Welterlöser sahen, von Gott zu ihrer heilgeschichtlichen Tat auserwählt, sahen andere in ihnen nichts als »stulti pueri«, dumme Jungs und Mädels, die sinnlos in Richtung Meer laufen. Das klingt uns Heutigen vertraut. Am Ende errang das Lager der Bewunderer den rhetorischen Sieg. Kindliche Armut schlägt kirchlichen Reichtum. Kindlichkeit, Unschuld und Armut sind Bilder und Metaphern, die offenbar bis heute stark wirken und die konkurrierende Einschätzung fanatischer, verführter, unreifer Apokalyptiker schlägt. Die Kinder haben es geschafft, dass ihre Umwelt sie als willenlose Instrumente Gottes darzustellen vermochte.

    Aus dem Vergleich folgt am Ende mehr als die bekannte Einsicht, dass der Gesinnungsethiker stets und unmittelbar mehr Gefolgschaft erhält als der Verantwortungsethiker. Bei genauer Betrachtung nämlich wird aus dem polemischen Etikett »Kinderkreuzzug« ein Wettstreit der Rhetoriken mit positiv lobendem Überhang: Unter dem Titel »Kinderkreuzzug« erschien im Jahr 1968 bei rororo ein von dem Sexualwissenschaftler Günter Amendt herausgegebener Band mit dem Untertitel »Beginnt die Revolution in den Schulen?«, der es bis 1971 auf über 50000 Exemplare gebracht hatte. Es ging darum, wie aus der »antiautoritären Bewegung« eine »sozialistische Schülerbewegung« werden könne, sozusagen als Avantgarde der Achtundsechziger. Dass er das Kampfwort vom »Kinderkreuzzug« mit Emphase positiv verwandte, war dem Herausgeber noch nicht einmal einer Begründung pflichtig. So zwingend ist offenbar der Charme von Naivität und Unschuld, höher als alles ökonomische Räsonnement. Wir wäre es, den erwartbar in Hollywood bald gedrehten Film zur Klima-Bewegung »Fridays for Future or The Children’s Crusade« zu betiteln?

    Rainer Hank