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  • 02. Dezember 2025
    Keine neue Hüfte

    Was kostet die neue Hüfte? Foto Wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Dürfen Gesundheitsleistungen rationiert werden?

    Was ist ein Monat Leben wert? Die Frage klingt merkwürdig. So denkt doch niemand. Das Leben fließt irgendwie wie ein Fluss. Wir haben eine Erwartung, was kommt. Und wenn es vorbei ist, klingt es noch eine Weile nach, bevor wir das Erlebte in die Erinnerung verpacken. Protention und Retention (Vorahnung und Nachklang), so heißen die Begriffe, mit denen der Philosoph Edmund Husserl den breiten Fluss des Lebens aus Sicht des Erlebenden beschreibt.

    Jeder kennt die Erfahrung, dass es Zeiten gibt, die irgendwie aufregend, wild, erfüllt, neuartig sind. Andere Zeiten wiederum verlaufen routiniert, sozusagen ohne besondere Vorkommnisse. Das kann durchaus entlastend sein: Immer aufregend zu leben, hält auf Dauer keiner durch.

    Dass Lebenszeit und Lebensqualität eng zusammengehören, wird am ehestens fassbar, wenn es darum geht, wie lange wir unter welchen Bedingungen leben wollen. Die neumodische Longevity-Bewegung hat dafür keinen Sensus: Da sieht es schlicht so aus, als hätte ein langes Leben per se einen Wert: Glücklicher wäre dann derjenige, der 95 Jahre alt wird, verglichen mit seinem Nachbarn, dem »nur« 85 Jahre vergönnt waren. Doch wenn die letzten zehn Lebensjahre des Fünfundneunzigjährigen in Einsamkeit, Siechtum und am Rande der Demenz verlaufen? Ist er oder sie dann wirklich besser dran als jemand, der »lebenssatt« zehn Jahre früher gestorben ist?

    Solche leicht melancholischen Überlegungen haben mich befallen beim Nachdenken über den Vorschlag des CDU-Gesundheitspolitikers Hendrik Streeck, Hochbetagten teure Medikamente zu versagen. Nach der Devise: Nicht alles, was medizinisch möglich ist, soll auch gemacht und finanziert werden. Streeck denkt zum Beispiel an Krebsmedikamente, die Zehntausende Euro kosten und das Leben des Patienten lediglich um wenige Monate oder gar Wochen verlängern.

    Kalter Zynismus?

    Erwartbar hat sich die geballte moralische Entrüstung über Streeck entladen. »Ethisch unhaltbar und unnötig«, so tönte Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach, ein alter Rivale Streecks. »Kalter Zynismus«, so sekundierte FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Die Linkspartei nannte den Vorschlag »beschämend«.

    Auf diese Weise wird jede vernünftige Debatte über den Zusammenhang von Lebenszeit und Lebensqualität erstickt noch bevor sie überhaupt in Gang gekommen ist. Die etwas Älteren haben sich sofort an den Vorschlag eines Vorsitzenden der Jungen Union (JU) erinnert – Philip Mißfelder hieß der Mann -, von einem bestimmten Alter an künstliche Hüftgelenke nicht mehr als Kassenleistung zu finanzieren. »Altersdiskriminierung«, so lautet heute wie damals das Totschlagargument derer, die weder anerkennen wollen, dass in einer Welt der Knappheit nicht alles Wünschbare auch finanzierbar ist, noch darüber, dass Präferenzen der Menschen sich eben nicht nur auf lebensverlängernde Zeit, sondern auch auf Lebenssinn beziehen. Was bei der Erziehung in Familien heute als »Qualitätszeit« definiert wird, lässt sich auch auf die Zeit im Alter des Lebens anwenden.
    Hendrik Streeck ist neu im Bundestag, aber kein Neuling in der Politik. Er leitet das Institut für Virologie an der Universität Bonn. Wir kennen ihn aus den Corona-Debatten, wo er regelmäßig Minderheitsmeinungen veröffentlichte, die zu bedenken gaben, trotz der gefährlichen Seuche nicht alle Freiheitsrechte zu opfern und das Leben aus Angst vor dem Tod völlig stillzustellen. Ich vermute, Streeck – ein erfahrener Provokateur -, ahnte, welche Reaktionen sein Vorschlag auslösen werde.

    Will man sich rational mit der Frage der Rationierung auseinandersetzen, braucht man mehr Argumente und weniger Gefühle. Einschlägig ist ein 2002 erschienener, vieldiskutierter Aufsatz des Konstanzer Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich Breyer mit dem Titel »Alter als Kriterium bei der Rationierung von Gesundheitsleistungen – eine ethisch-ökonomische Analyse«. Breyer Argumentation geht, grob zusammengefasst, so: Mit mehr älteren Menschen steigen die Gesundheitsausgaben im System. Besonders teuer wird es in den letzten Monaten oder Wochen. Daraus folgt die Notwendigkeit der Rationierung: nicht jeder kann oder muss alles bekommen. Statt einer impliziten Rationierung, die es im Gesundheitssystem heute schon gibt (willkürliche Wartezeiten und Wartelisten), müsse eine demokratische Gesellschaft transparente Kriterien aufstellen, was finanziert werden solle und was nicht. »Alter« so Breyer, sei ein faires Kriterium der Diskriminierung, weil es jeden betreffe: Jeder wird alt. Das Einkommen oder den sozialen Status heranzuziehen, sei dagegen deutlich unfairer. Für den Ökonomen geht es nicht nur um Fairness, sondern auch um Effizienz: Deshalb sollten Therapien bevorzugt werden, die mehr Lebenszeit pro eingesetztem Euro erzeugen. Und die zudem ausweisen, welche Minderung der Lebensqualität damit verbunden ist, so dass finanzierende Kassen und Versicherungen, aber auch Patienten die Möglichkeit erhalten, »vernünftig« über den Nutzen solcher Behandlungen zu entscheiden. Erst dann lässt sich darüber diskutieren, ob das »Alter« als Kriterium der Rationierung taugt. Oder nicht besser das rechnerische Produkt aus gewonnener Lebenszeit mal (verschlechterter) Lebensqualität. Die daraus resultierende Kennzahl wird Qualy genannt und ist in angelsächsischen Ländern gang und gäbe.

    Was macht die Ehtikkommission?

    Eva Winkler, Onkologin und Mitglied im deutschen Ethikrat hat jetzt in einem lesenswerten Interview mit dem »Tagesspiegel« zu bedenken gegeben, dass das kalendarische Alter wenig über den Therapiebedarf aussage: »Wir wissen, dass der Ressourcenbedarf mit der Nähe zum Lebensende steigt – aber nicht notwendigerweise mit dem Alter.« Sollen also diejenigen, »die ihr Leben gelebt haben«, zurückstehen, wenn es um teure, lebensverlängernde Maßnahmen geht und lediglich noch Zugang zu Palliativmedizin erhalten? Das würde ein Wissen darüber voraussetzen, wann man »ein Leben gelebt« hat. Eine Antwort darauf ist eben nicht nur von der Lebenszeit abhängig, sondern auch von dem in dieser Zeit erfahrenen Sinn des Lebens. Wir kennen Menschen, die früh gestorben sind und gleichwohl ein volles Leben gelebt haben. Und wir kennen Menschen, die ein langes Leben hatten und gleichwohl wenig gelebt haben.

    Vorläufig würde ich deshalb gerne festhalten: Um die Frage der Rationierung von Gesundheitsleistungen sollte unsere Gesellschaft sich nicht herumdrücken. Geld darf nicht darüber entscheiden, wer Medizin bekommt und wer nicht. Das Alter als Kriterium ist zwar deutlich fairer als der Geldbeutel, aber letztlich auch nicht befriedigend, wenn es um das Verhältnis von Lebensverlängerung und Lebensqualität geht.

    Merkwürdig ist übrigens, dass der deutsche Ethikrat sich bislang noch nie zum Thema Rationierung im Gesundheitssystem geäußert hat. Ich finde, es wäre höchste Zeit.

    Rainer Hank