Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

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  • 17. Juni 2021
    Kaviar statt Butterbrot

    Kaviar auf Wachtelei Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Jetzt das Geld ausgeben, sonst ist der Sommer schon wieder vorbei

    Die Impfkampagne wirkt wie ein Konjunkturprogramm. Dieser bemerkenswerte Satz steht in einem Ausblick auf die Welt nach Corona, den die OECD, der Club der reichen Industrieländer, kürzlich veröffentlicht hat. Daraus lässt sich dreierlei ableiten: Je besser und schneller ein Land die Impferei hinbekommt, umso schneller geht es mit der Wirtschaft bergauf. Je besser das Impfen funktioniert, umso mehr Freiheit gewinnen wir zurück. Und schließlich: Dass überhaupt geimpft wird, ist ein großer Erfolg des Kapitalismus und seiner die Freiheit und die Menschenleben rettenden Kreativität. Wer wie der Grünen-Chef Robert Habeck meint, der Kapitalismus habe in der Pandemie versagt, weil der Markt im Frühjahr 2020 nicht gleichzeitig jedem weltweit eine Maske zum Nulltarif angeboten hat, sollte sich das Impfwunder zu Gemüte führen.

    Die Freude über Freiheit und rückläufige Inzidenzen ist seit den sonnigen Tagen mit Händen zu greifen. Unsere Corona-Gereiztheit lässt nach, weicht einer Stimmnung freudiger Gelassenheit. »Back to normality« ist das Schlagwort der Stunde. Alles schnell öffnen, verlangt der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger: »Sonst ist der Sommer schon wieder vorbei.« Das trifft unsere Ungeduld gut.
    Es gibt Zeitgenossen, die uns einreden wollen, wir dürften jetzt nicht zurück zur Normalität. Bescheidenheit, Askese und die Reduktion des Lebens auf die wahren und echten Bedürfnisse seien das Gebot der Stunde: Bayern statt Bali, Butterbrot statt Beluga-Kaviar. Das würde den Propheten der Askese so passen. Was meine »wahren« Bedürfnisse sind, will ich schon selbst entscheiden. Wer meint, dafür gäbe es ein objektives Maß, verfolgt im Grunde nur ein Umerziehungsprogramm nach seinen eigenen Normen. Anmaßende Verhaltenslenkung im Gewande der moralisch guten, ökologisch korrekten Erwachsenenpädagogik.

    Inzwischen häufen sich kluge Analysen, die erwarten, dass wir den Roaring Twenties des 21. Jahrhunderts entgegengehen. Dafür spricht das vitale Bedürfnis, endlich wieder in vollen Zügen zu leben. Dem gesellen sich ökonomische und historische Fingerzeige hinzu. Schaut man sich die Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds an, so wird in allen G-7–Ländern in diesem Jahr ein robustes Wachstum erwartet, das von mehr als sechs Prozent in den USA über 3,6 Prozent in Deutschland bis zu gut drei Prozent in Japan reicht. Einen derart synchron verlaufenden Aufschwung, noch dazu in dieser Stärke, hat die Weltwirtschaft seit den Fünfzigerjahren nicht mehr erlebt. Entscheidender Treiber dieses Wachstums sind gigantische Konjunkturprogramme, die viele Länder aufgelegt haben.

    Ein Schub der Digitalisierung

    Hinzu kommt, dass die Pandemie einen enormen Schub der Digitalisierung bewirkt hat. Die Erfindungen rund um das Internet und ihr möglicher technischer und wirtschaftlicher Nutzen sind schon lange bekannt. Aber jetzt setzt sich der digitale Fortschritt breit durch. Das war mit Fernsehgerät, Spülmaschine und Automobil in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nicht anders. Alles gab es schon seit den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Aber erst in den »Roaring Sixties« fanden diese Geräte Eingang in jeden Haushalt. Andy Haldane, der Chefökonom der Bank of England, vertritt die Auffassung, der Digitalisierungsschub der Pandemie bringe nun endlich die Lösung des sogenannten »Produktivitätsparadoxons«: Jetzt werden sich die Früchte der Digitalisierung im Gesundheits- oder Bildungswesen, in den Fabriken und den Büros und deshalb auch in den volkswirtschaftlichen Statistiken niederschlagen. Das könnte freilich auch den Effekt haben, dass die Unternehmen ihre Fertigung ins Internet der Dinge hinein automatisieren – als Maßnahme zur Stärkung der Resilienz gegen kommende Schocks: Roboter in den Fabrikhallen sind – anders als Menschen – gegen gefährliche neue Viren nachhaltig immun.
    Das viele Geld, das die Menschen in der Pandemie unfreiwillig gespart haben, will jetzt ausgegeben werden. In Deutschland ist die Sparquote der privaten Haushalte von gut zehn Prozent des Einkommens im vergangenen Jahr auf noch nie dagewesene 16,2 Prozent angestiegen. Das sind 331 Milliarden Euro. Der auf Verzicht beruhende Anteil dieses Geldes kann jetzt verkonsumiert werden – auf Bali, den Bahamas oder in Bad Gastein. Ob das die Inflation dauerhaft nach oben treibt – auch das gehört ja zu den Roaring Twenties –, dar¬über machen Ökonomen sich Sorgen – selbst jene, die meinten, eine inflationsfreie Welt sei ein säkularer Trend und gefährlich sei eher eine Deflation (von der hat man schon lange nichts mehr gehört). Da ich aber eine komplett optimistische Kolumne schreiben will, sollen die Inflationsängste an dieser Stelle nicht vertieft werden. Zumal der britische Economist uns kürzlich eine beruhigende Grafik der Investmentbank Goldman Sachs gezeigt hat, aus der ich entnehme, dass zwar nach Kriegen die Teuerung dramatisch ansteigt, aber nicht nach Seuchen. Gut, dass wir »bloß« eine Pandemie hatten und keinen Krieg.

    Was die Fachleute von Goldman Sachs ebenfalls herausgefunden haben: Der Konsum nimmt nach Pandemien zwar zu. Aber die Leute werfen nicht besinnungslos ihr Geld zum Fenster raus. Die Krise hat sie vorsichtig werden lassen. Das könnte jetzt auch wieder so sein. Eine Krise folgt der nächsten (Finanz-, Euro-, Flüchtlings- und Corona-Krise). Gerade weil wir in den vergangenen 20 Jahren mehrfach die Erfahrung des Unerwarteten gemacht haben, bremsen wir unseren Optimismus ab. Der amerikanische Ökonom Barry Eichengreen meint deshalb, die Sparquote werde weltweit tendenziell höher bleiben.

    Der Große Gatsby

    Ich will der Aufrichtigkeit halber nicht verhehlen, dass es Zeitgenossen gibt, welche die Erwartung der Roaring Twenties übertrieben finden. Sie haben viele schwache, aber ein starkes Argument auf ihrer Seite: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs lag der Anteil der unter Zwanzigjährigen an der Gesamtbevölkerung in Westeuropa bei knapp vierzig, jener der über Fünfundsechzigjährigen bei sechs bis sieben Prozent. Heute hat sich der Anteil der Jungen halbiert und jener der Älteren fast vervierfacht. Dass sich in einer solchen Gesellschaft die Exzesse und Orgien in Grenzen halten werden, wird man vermuten dürfen, aller darin enthaltenen Altersdiskriminierung zum Trotz. Dass es also nach 1920 einen Boom an »Start-ups« gab und eine neue Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, taugt nicht unbedingt zur Blaupause für das aktuelle Jahrzehnt. Die sogenannte säkulare Stagnation könnte uns noch eine ganze Weile begleiten: In Erwartung eines langen Lebens sparen immer mehr Leute immer mehr. Aus Ersparnissen werden keine Investitionen: weil den Firmen nichts Gescheites einfällt.

    Was soll man sagen? Dass Prognosen unsicher sind, vor allem dann, wenn sie die Zukunft betreffen, wissen wir. Halten wir uns derweil an den »Großen Gatsby«, F. Scott Fitzgeralds Roman der Roaring Twenties: »Gatsby glaubte an die rauschende Zukunft, die Jahr um Jahr vor uns zurückweicht. Sie ist uns gestern entschlüpft, doch was tut’s – morgen schon eilen wir rascher, strecken weiter die Arme aus . . . Und eines schönen Tages . . .«

    Rainer Hank