Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. Januar 2024
Israel in die EUHightech Reichtum, bittere Armut und ein Funken Utopie
Israel sollte die Mitgliedschaft in der EU angeboten werden. Dies hat Michal Brumlik, ein deutsch-jüdischer Intellektueller, vor ein paar Jahren vorgeschlagen. Deutschland könnte dabei eine federführende Rolle spielen. Noch mehr als die Türkei mit ihren osmanischen Wurzeln sei der Staat Israel von Europa kulturell geprägt, so Brumlik.
Auf den ersten Blick klingt die Idee absurd. Erst recht in diesen Zeiten. Aber eben nur auf den ersten Blick.Nun wissen wir nicht, ob Israel überhaupt an einer EU-Mitgliedschaft interessiert wäre. Oder womöglich lieber der 51. Staat der Vereinigten Staaten von Amerika würde, sollte ein alternatives Angebot aus Washington vorliegen. Zudem weiß ich nicht, ob zu den Voraussetzungen einer EU-Mitgliedschaft zwingend gehört, dass das Land geographisch zu Europa gehört. Sachlich zwingend ist es keineswegs: Man konnte Mitglied der Hanse werden, einem Freihandelsbündnis in der frühen Neuzeit, wiewohl die Städte weit auseinanderlagen zwischen Westeuropa und Russland und keine gemeinsame Grenze hatten. Man konnte auch dem »Heiligen römischen Reich deutscher Nation« angehören, wiewohl weder römisch noch deutsch. Stattdessen waren gleichlaufende politische und ökonomische Interessen Voraussetzung für die Aufnahme in das Bündnis.
Hinzu kommt: Wirtschaftlich und politisch könnte Israel viel schneller die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen als die Ukraine, wo demnächst Beitrittsverhandlungen eröffnet werden sollen. Im »Economic Freedom Index«, einem anerkannten Maß für wirtschaftlichen Erfolg, offene Märkte und Rechtsstaatlichkeit, belegt Israel den Platz 34, während die Ukraine viel weiter hinten auf Platz 130 rangiert. Der Staat Israel ist seit 2010 auch Mitglied der OECD, dem Club der reichen Industriestaaten der Welt: Als Voraussetzung gelten marktwirtschaftliche und demokratische Strukturen sowie die Achtung der Menschenrechte. Freier Wettbewerb und Freihandel müssen anerkannt und weitgehend umgesetzt sein.Israel ist eines der faszinierendsten Wirtschaftswunder der letzten hundert Jahre. Um Strecken eindrucksvoller als unser gleichnamiges Wunder nach dem zweiten Weltkrieg. Während es hierzulande nach dem Krieg bereits eine Industrielandschaft gab, die rasch wieder aufgebaut werden konnte und eine Arbeiterschaft samt technischer Intelligenz, die an der Vorkriegszeit anknüpfen konnte, fanden die jüdischen Einwanderer im frühen 20. Jahrhundert Palästina als ein Land vor, in dem die Menschen unter dem osmanischen Reich in relativer Armut lebten. Das Heilige Land war wirtschaftlich gesehen kein gesegnetes Land. Eine Industrialisierung, die seit dem 19. Jahrhundert der westlichen Welt großen Wohlstand brachte, hatte dort nicht stattgefunden.
Die israelische Erfolgsgeschichte
Kollektive und kooperative Unternehmungen (»Kibbuzim«) spielten entsprechend der sozialistisch-zionistischen Ideologie in der Frühzeit der Besiedlung eine große Rolle. Bis Mitte der dreißiger Jahre waren jüdische und arabische Wirtschaftsstrukturen miteinander verknüpft. Erst ein arabischer Aufruhr zum Boykott der jüdischen Wirtschaft von 1936 zwang den »Jischuv«, das jüdische Gemeinwesen in Palästina, eigenständige wirtschaftliche Strukturen auszubilden.
Der arabische Wirtschaftsboykott wurde – gegen seine Absicht – zum Auslöser der israelischen Wohlstandsgeschichte. Während die Palästinenser in relativer Armut verharrten. Und die Ungleichheit zwischen Israelis und Palästinensern immer größer wurde. »Die schiere Ungleichheit zwischen einem durchschnittlichen Palästinenser und einem durchschnittlichen Israel ist atemberaubend« – so beschrieb es der palästinensisch-amerikanische Intellektuelle Edward Said in einer Lecture zum Thema »Macht und Ungleichheit« an der amerikanischen Universität von Kairo im Jahr 2003. Said fügte hinzu: Diese dramatische ökonomische Ungleichheit sei außerhalb der Region weithin unbekannt.
Das lässt sich mit Zahlen untermauern. In nur gut vierzig Jahren, zwischen 1980 und 2023 stieg das israelische Prokopfeinkommen von 6 600 Dollar auf inzwischen 57 000 Dollar. Damit gleicht der dortige Wohlstand dem unseren. Dagegen verharrt Palästina in Armut bei bei 3 600 Dollar. Entscheidend ist, dass Israel sich seit 1990 von einer landwirtschaftlich dominierten Wirtschaft (»Jaffa-Orangen«) zu einem wettbewerbsfähigen Telekommunikations-, Hightech- und Startup-Land entwickelt hat. Die Bevölkerung wuchs vor allem infolge der großen Einwanderungswelle in den neunziger Jahren aus den Republiken der Sowjetunion, zu großen Teilen gut ausgebildete technische Intelligenz, von 4,7 auf inzwischen über neun Millionen Einwohnern. Nirgends in der Welt ist die Geburtenrate so hoch wie in Israel. Migration und Bevölkerungswachstum sind kein Problem, sondern Bedingung des Erfolgs.
Amsterdam zwischen Beitur und Gaza
Das führt zurück zur scheinbar absurden Ausgangsfrage – einem Angebot an Israel, der EU beizutreten. Tatsächlich passt das Land ökonomisch und kulturell viel besser in die EU (oder eben nach USA) als in den Orient. Das hängt zusammen mit der der europäischen Tradition des Zionismus. Der Journalist und Buchautor Ari Shavit (»Mein gelobtes Land«) hat diese Paradoxie kürzlich in einem Essay im »Times Literary Supplement« so beschrieben: »Die Israelis haben sich selbst davon überzeugt, dass sie zwischen Beirut und Gaza das Leben von Amsterdam leben könnten.« Die palästinensisch-orientalische Umgebung haben sie dabei so weit es ging ignoriert (um es vorsichtig zu sagen).
Die bittere Pointe, so Shavit: Israel ist (auch) unschuldiges Opfer seines Erfolgs geworden. Es hat die Augen verschlossen vor der wachsenden Ungleichheit gegenüber seiner Umwelt und den Millionen von Palästinensern, die in bitterer Armut und Hoffnungslosigkeit leben. Die Terroristen der Hamas haben Israel am 7. Oktober 2023 daran erinnert. Das Massaker richte sich gegen die westlichen (europäischen) Gesellschaften und die Werte der freien Gesellschaften. Die Hamas kämpfe nicht gegen Israel als Unterdrücker, sondern gegen Israel als liberale und kapitalistische Demokratie, so Shavit.Wirtschaftlicher Erfolg hängt weder an geografischen noch ethnischen noch kulturellen Voraussetzungen. Die israelischen Siedler waren Anfang des 20. Jahrhundert so arm wie die Palästinenser. Singapur war 1960 so arm wie Gaza. Umgekehrt war Palästina in der Antike eine reiche Hochkultur. Nicht zuletzt Gaza hatte eine Vergangenheit der Prosperität in der Spätantike, von der großartige Mosaiken zeugen. Damals stießen die Handelsstraßen aus Arabien dort an die Mittelmeerküste. Es war eines der letzten Zentren des Heidentums mit einer hochentwickelten Kultur.
Und heute? Es ist ein Jammer.Rainer Hank