Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen04. Mai 2020
In der RisikogruppeDarf man den Wert eines Lebens in Geld beziffern?
»Willkommen in der Risikogruppe!«, das war meine Grußformel, die ich einem Freund anlässlich seines 60. Geburtstags vergangene Woche zurief. Nicht sehr feinfühlig, wir mir klar wurde. Wer will schon gerne ein Risiko sein, weder für andere noch für sich selbst. Wen immer ich derzeit aus meiner Kohorte spreche, hat daran zu knabbern. »Was mir der Coronakomplex antut, ist, dass er mich zum ›Senior› macht«, schreibt mir ein putzmunterer akademischer Emeritus: Die Politik wolle ihm Reisen zu Vorträgen oder Arbeitstagungen verbieten und ihm Berufsverbot erteilen, knurrt er. »Damit sie das kann, ernennt sie mich zum »Senior«, also überflüssig«, so der Emeritus.
Das alles ist eine gewaltige narzisstische Kränkung. Wir Alten – wie sich das schon anhört – rebellieren innerlich ununterbrochen. Die liebste Entlastungsübung geht so: Wir rechnen uns souverän aus der Risikogruppe raus. Denn biographisches Alter und biologisches Alter klaffen bekanntlich auseinander. »60 ist das neue 50«, so ungefähr jedenfalls geht das Spiel. Das alles, man muss es so klar sagen, sind mehr oder weniger hilflose Anstrengungen, die das Ziel haben, die sichtbare und zählbare Anwesenheit des Todes in den Hintergrund zu drängen. Aber wie soll man das nur schaffen, bei all den Statistiken zur »Übersterblichkeit«, mit denen wir täglich konfrontiert werden (von den Fernsehbildern der Särge ganz abgesehen).
Zwar bedroht die Corona-Pandemie die Menschheit als Ganze. Aber das Risiko nimmt mit dem Alter zu. All die Maßnahmen, die derzeit zur Abflachung der Infektionskurve unternommen werden, kommen – statistisch gesehen – mir mehr zugute als meiner fünfundzwanzigjährigen Nichte. Bislang waren wir gewohnt, die mit der steigenden Lebenserwartung verbundene demographische Entwicklung nahezu ausschließlich positiv zu interpretieren. Jetzt zeigt sich aber, dass dieser Gewinn an Lebenszeit für die Gesellschaft mit deutlich höheren Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden ist.
Pandemie in Zeiten alternder Gesellschaften
Covid 19 sei die erste Seuche der Menschheitsgeschichte, die in eine Zeit fällt, in der mehr Menschen über 65 Jahre alt sind als unter fünf Jahren, schreibt Andrew Scott, ein Ökonom der London Business School. Wir sind mehr und wir leben länger. Das heißt einerseits, dass es viel mehr Menschen mit höheren Infektionsrisiken gibt als vor hundert Jahren und dass zugleich von den Maßnahmen sozialer und physischer Distanzierung, die jetzt überall vorgeschrieben sind, vor allem wir Älteren profitieren. Und dass dies der gesamten Gesellschaft mehr Geduld abverlangt als frühere Pandemien.
Corona, folgt man der Argumentation von Professors Scott, wird im Vergleich mit früheren Epidemien deutlich teurer und zwar ganz unabhängig von den billionenschweren Konjunktur- und Kreditprogrammen. Dies schlicht deshalb, weil mehr Alte gerettet werden müssen. Die Herleitung Scotts ist ein bisschen kompliziert, lohnt aber das Nachdenken: Im Jahr der Spanischen Grippe 1920 waren 8,5 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre; heute sind es 22 Prozent. Im Jahr 2050 werden es 28 Prozent sein. Weil nun das Risiko an Corona zu sterben mit dem Alter exponentiell wächst, nehmen im Umkehrschluss auch die Vorteile für die Älteren zu, die von einer erfolgreichen Politik der sozialen Distanz profitieren. Hätten wir heute eine Altersverteilung wie im Jahr 1920, würden die jetzt getroffenen Maßnahmen 580000 Leben retten, während heute 1,8 Millionen Menschen dem Tode entgehen.
Ökonomen schrecken vor nichts zurück und übersetzen die potenzielle Lebensrettung in Geld, indem sie jedem Leben einen statistischen Wert geben. Das klingt kalt, ist aber gleichwohl nicht abwegig. Natürlich gibt es keinen noch so hohen Geldbetrag, für den wir freiwillig unser Leben oder das eines geliebten Menschen hergeben würden. Doch darum geht es nicht. Wir stellen bei all unseren Handlungen selbst häufig ein Kalkül an, wissen zum Beispiel, dass Autofahren tödlich enden kann und machen es trotzdem bei (zumeist) vollem Risikobewusstsein. Um das Risiko tödlicher Autounfälle zu reduzieren, errichten die Kommunen Ampeln. Da man aber nicht an allen Kreuzungen Ampeln aufstellen kann, kommt man um eine Kosten-Nutzen-Analyse nicht herum, für die sich ein fiktiver Geldbetrag des Nutzens – genannt »Wert eines statistischen Lebens« – einsetzen lässt.
Solche Überlegungen spielen jetzt auch in der Corona-Krise eine Rolle. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat das vergangene Woche auf die ihm eigene Weise beschrieben: »Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig«. Die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde schließe nicht aus, »dass wir sterben müssen«. Corona desillusioniert unsere Unsterblichkeitsphantasien.
Wir alten profitieren
Benutzt man den Wert eines statistischen Lebens in diesem Sinn, verliert die Rechnung ihren Zynismus. Andrew Scott, der Professor aus London, beziffert für Amerika den Wert der durch die Maßnahmen sozialer Distanzierung geretteten Menschenleben auf knapp acht Billionen Dollar. Die im Vergleich zu 1920 heute größere Anzahl älterer und länger lebender Menschen erfordert aber zugleich auch, dass der Shutdown dreimal so lang dauert als er 1920 für vergleichbare Ziele nötig gewesen wäre.
Was daraus folgt? Wir Alten sollten uns dreimal überlegen, wie laut wir die Einordnung als Risikogruppe beklagen. Denn objektiv profitieren wir überproportional – je älter umso mehr –, während der Löwenanteil der Kosten dafür von den Jüngeren geschultert werden muss. Statistisch gesehen tun die Jüngeren also mehr für mich als für sich.
Daraus könnte ein neuer Generationenkonflikt resultieren. Es bleibt ungenügend, die Jüngeren damit zu beschwichtigen, dass sie selbst auch einmal älter werden und im Fall einer abermaligen Pandemie dann auch von Jüngeren gerettet werden wollen. Das Argument der Gegenseitigkeit, das an den »Generationenvertrag« bei der gesetzlichen Rente erinnert, ist zwar richtig, aber etwas unfair, weil die hohen Kosten für die Jüngeren heute anfallen, während der künftige Nutzen erst später erzielt wird und noch dazu unsicher ist.Um einen drohenden Generationenkonflikt zu entschärfen, könnte es geraten sein, im weiteren Verlauf der Pandemie den Jüngeren mehr Freiheiten als den Älteren zu lassen. Es ließe sich die größere Freiheitsbeschränkung paternalistisch mit dem höheren Schutzbedürfnis der über Sechzigjährigen begründen, was dann als eine »gute« Diskriminierung kommuniziert werden könnte. Aber es wäre doch zugleich eine ziemlich dicke Entmündigung, wie sie bei kleinen Kindern, aber nicht bei vernünftigen Erwachsenen gerechtfertigt ist. Wäre es nicht besser, uns Alte selbst entscheiden zu lassen, welchen Risiken wir uns aussetzen wollen, natürlich bei Wahrung der Abstand- und Mundschutzregeln? Ethisch gibt es daran nichts auszusetzen: Wir müssen in Kauf nehmen, von Jüngeren angesteckt zu werden, sind aber unsererseits für die Jüngeren keine größere Gefahr als alle anderen Zeitgenossen.
Es gibt eben keinen absoluten Schutz vor dem Sterben. Jetzt nicht. Aber eben auch nicht, wenn Corona – hoffentlich bald – vorüber sein wird.
Rainer Hank