Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen08. Oktober 2024
Im Paradies der DamenEin Nachruf auf das Kaufhaus – speziell in Stuttgart
»Wir gehen zum Schocken.« Ich hatte nie verstanden, warum meine Tante sagte, wir gingen zum Schocken, wo das Kaufhaus in der Stuttgarter Eberhardstraße doch den Namen »Horten« trug. Als Kind fragt man nicht. Als Kind hatte ich gelernt, wenn die Tante »Schocken« sagte, dann meinte sie den »Horten«.
Später dann, als Erwachsener, habe ich mir zusammengereimt, Schocken müsse wohl ein jüdischer Unternehmer gewesen sein, dessen Kaufhäuser von den Nazis enteignet wurden und irgendwann an den Herrn Horten gefallen waren. Und für meine Tante, die seit den dreißiger Jahren in Stuttgart lebte, wäre der Horten halt immer noch der Schocken. So hätte es sein können. Doch so war es nicht gewesen.
Nachdem ich jetzt die große Biographie des Nachkriegsunternehmers Helmut Horten der beiden Historiker Peter Hoeres und Maximilian Kutzner gelesen habe (»Der Kaufhauskönig«), bin ich schlauer. Salman Schocken (1877 bis 1959) und sein Bruder Simon (1874 bis 1924) hatten zu Ende des 19. Jahrhunderts das große Potential erkannt, das das Geschäftsmodell Kaufhaus barg. Die mit dem »Au Bon Marché« 1852 in Paris begonnenen Erfolgsgeschichte der Kaufhäuser – Konsumtempel in den Innenstädten der großen Städte – hatte den Einkauf, wenn nicht demokratisiert, so doch immerhin für den kleinen Geldbeutel erschwinglich werden lassen. Wer wissen will, wie Kommerz und Marketing damals funktionierten, muss Emile Zolas Roman »Im Paradies der Damen« (»Aux Bonheur des Dames«), 1882 erschienen, lesen. Das Buch entführt uns in die schillernde Welt eines Pariser Warenhauses – beleuchtet Architektur, Interieur und Sozialgefüge der Angestellten, aber auch die Auswirkungen auf den gewachsenen Mikrokosmos der angrenzenden Stadtviertel.
Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Expansion der Brüder Schocken in größere deutsche Städte: Die ersten Kaufhäuser wurden in Stuttgart und Ingolstadt errichtet. Hier zielte man nicht mehr nur auf Arbeiter als Kunden. Es fanden sich in den Auslagen auch höherpreisige Waren. 1931 gab es über 30 Schocken-Filialen im gesamten Deutschen Reich. Das Stuttgarter Kaufhaus wurde 1928 von dem bekannten jüdischen Architekten Erich Mendelsohn gebaut. Das Gebäude war beeinflusst von Mendelssohns expressionistischem Architekturverständnis. Sein Design mit halbrundem gläsernen Treppenturm, Fensterbändern und Flachdach hob es – zusammen mit dem »Tagblattturm«, einem Bau der Neuen Sachlichkeit – deutlich aus dem gründerzeitlichen Stuttgart der Vorkriegszeit heraus.
Helmut Horten kauft die Schocken-Häuser
Mit der Machtübernahme der Nazis änderte sich die wirtschaftliche Situation für die jüdischen Kaufhausbesitzer. Der Aufruf »Kauft nicht bei Juden!« tat seine verheerende Wirkung. Von 1933 an trennte Schocken sich schrittweise von seinen Kaufhäusern und emigrierte zunächst nach Palästina, dann in die USA. Der Verkaufspreis der Häuser lag deutlich unter Marktwert.
Nach dem Krieg, im Jahr 1949, erhielt Schocken 51 Prozent seines Konzerns zurück und legte all seine Energie in den Wiederaufbau der Warenhäuser. Das heißt: Nach dem Krieg war Schocken in Stuttgart tatsächlich wieder Schocken. Allerdings nur bis Anfang der Fünfziger Jahre – als Schocken sein Eigentum an den Kaufmann Helmut Horten für 12,5 Millionen DM verkaufte. Was ihn zum plötzlichen Verkauf trieb, dazu finden sich laut Historiker Peter Hoeres keine Quellen.
Helmut Hortens Karriere wurde – wie bei vielen Unternehmern des westdeutschen Wirtschaftswunders – in der Nazizeit grundgelegt. Als »Nutznießer« der Arisierung war er kein ideologischer Nazi, aber profitgieriger Opportunist, der die Zukunft der Kaufhäuser erkannt hatte. Mit der Übernahme der Schocken-Kaufhäuser wurde er mit einem Schlag einer der großen Spieler im Einzelhandel der frühen Bundesrepublik – mit zuletzt 29.000 Angestellten, 51 Warenhäuser und zwei Milliarden DM Umsatz. Im Ranking der großen Warenhäuser hielt er Platz vier – nach Kaufhof, Karstadt und Hertie.
Als genial gilt die Erfindung der sogenannten Horten-Kacheln – ein stilisiertes »H« – erst aus Keramik, dann aus Aluminium, erfunden von dem Architekten Egon Eiermann: Zur Fassade der Kaufhäuser wurde eine Wabenstruktur dieser Kacheln, die den Zweck hatte, den Horten-Kaufhäusern ein einheitliches Erscheinungsbild zu verpassen. Horten forderte den Abriss des Mendelsohnbaus, weil es keine Rolltreppen und keine Klimaanlage gab. In Stuttgart regten sich große Widerstände gegen die »Verschandelung des Stadtbildes«. Doch letztlich setzte sich Horten durch. Der Mendelsohnbau wurde 1960 abgerissen, der Eiermannbau wurde – geliebt und gehasst – zum Ausdruck des amerikanischen Konsumismus in einer »autorgerechten« Stadt.
Erst von 1961 an, so kann man es sagen, war aus Schocken Horten geworden – nicht schon in den dreißiger Jahren, wie ich fälschlich vermutet hatte. Für meine Tante blieb es aber bis zu ihrem Tod »der Schocken«.
Ein ziemlicher Unsympath
Helmut Horten, nach Lektüre der Hoeres-Biografie ein ziemlicher Unsympath, war klüger als die Benko-Brüder. Rechtzeitig vor der ersten großen Krise der Kaufhäuser in den siebziger Jahren hatte er Kasse gemacht, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und sich mit einem Milliardengewinn »unter legaler Ausnutzung eines Steuerschlupfloches« (Peter Hoeres) ins Tessin abgesetzt, wo man ihn mit offenen Armen und niedrigen Steuersätzen aufnahm. Fortan widmete er sich seiner 32 Jahre jüngeren Frau Heidi (gestorben 2022), dem Kauf von Kunst, der 20.000 Quadratmeter großen Jagd in der Steiermark (wahlweise auch in den Karpaten und in Afrika) und der erfolgreichen Vermehrung seines großen Vermögens. Eiserne Disziplin – der Arbeitstag begann um 6 Uhr 30 und endete spät in der Nacht – hatten in groß gemacht. Jetzt erlaubte er sich, im Luxus zu schwelgen.
Die feineren Sachen kauften wir Stuttgarter natürlich nicht beim Schocken, sondern beim Breuninger. Da gab es sogar eine Abteilung, die hieß »Exquisit« und später auch noch ein Schwimmbad auf dem Dach. Das ist alles lang her. Kaufhäuser braucht im Zeitalter von Amazon niemand mehr. Auch der Breuninger steht jetzt zum Verkauf.
Unternehmerische Haudegen wie Helmut Horten, Georg Karg (Hertie), Josef Neckermann, Berthold Beitz (Krupp) findet man heute eher in Kalifornien. Horten habe viel erreicht, meinen seine Biografen: Er hat Mode und Stil für jedermann ermöglicht, die Kulinarik ins Warenhaus geholt, die Deutschen mit frischem Fisch versorgt und ein angenehmes Einkaufserlebnis geschaffen. In seiner Branche sei er der Ehrgeizigste und in der langen Boomphase nach dem Krieg der Waghalsigste gewesen. Ähnlich der opaken Fassade seiner Kaufhäuer (Horten-Kachel) gestattete er keinen Einblick in sein Innenleben und vernichtete viele Spuren seiner Existenz.Rainer Hank