Rainer Hank als Illustration

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  • 02. Dezember 2025
    Hongkong als Vorbild

    One country two systems Foto Archiv

    Über Konkurrierende Freiheite

    Jüngst haben wir ein paar Tage in Hongkong verbracht. Beim Einkaufen, eine besonders beliebte touristische Beschäftigung, wunderten wir uns, dass es in Hongkong keine Mehrwertsteuer gibt. Hierzulande sind das im Normalfall immerhin 19 Prozent, die auf die Rechnung kommen und vom Händler quasi als Unterabteilung des Fiskus an den Staat abgeführt werden müssen. Ein Staat ohne Mehrwertsteuer? Wie kommen die an ihr Geld?

    Hongkong, so lässt sich nachlesen, hat im internationalen Vergleich extrem einfache und tiefe Steuern. Die progressive Einkommensteuer endet bei 15 Prozent (bei uns sind es 42, respektive 45 Prozent). Die Unternehmensteuer beträgt 16,5 Prozent; die ersten zwei Millionen des Gewinns werden niedriger besteuert. Es gibt noch eine Abgabe von 15 Prozent auf Immobilieneigentum. Das war’s dann. Kapitalgewinne, Dividenden, Erbschaften werden nicht besteuert. Waren und Dienstleistungen, wie gesagt, ebenfalls nicht.
    Ein funktionierender moderner Staat mit Flattax – wie geht das? Die einfache Antwort lautet: Hongkong hat eine schlanke und effiziente Verwaltung und beschränkt sich auf die staatlichen Kernaufgaben der Bereitstellung von Sicherheit. Für Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge und vieles mehr müssen die Bürger privat sorgen. Wenn viele Firmen hohe Gewinne machen, bringen auch niedrige Steuersätze hohe Einnahmen. Die Masse macht’s. Das Gesetz verpflichtet Hongkong zu einem ausgeglichenen Haushalt; die Staatsausgaben werden an die Einnahmen angepasst, was eine sehr niedrige Staatsverschuldung zur Folge hat. Ein solches Land übt magnetische Kräfte aus auf Unternehmen, Investoren und talentierte Arbeitskräfte.

    Vielleicht sollten der deutsche Bundeskanzler und sein Finanzminister bald einmal eine Reise nach Hongkong unternehmen. Zugegeben, es ist ein bisschen unfair, einen kleinen Stadtstaat mit einem Flächenland zu vergleichen. Jedoch hat der Index wirtschaftlicher Freiheit des renommierten Fraser Institutes Hongkong auch 2025 auf Platz Eins gesetzt. Nirgends auf der Welt gibt es so viel Freiheit wie hier. Entsprechend groß war der Jubel von Hongkongs Regierung: Der Bericht bestätige Hongkongs Stärken als freier Marktwirtschaft sowie sein offenes und effizientes Geschäftsumfeld mit fairen Wettbewerbsbedingungen. Angesichts der zunehmenden geopolitischen Spannungen und des wachsenden Protektionismus, die das internationale Handelssystem und die globale Wirtschaftsordnung stören, werde Hongkong seinen Status als Freihafen verteidigen. »Wir werden unsere Freihandelspolitik und unser einfaches, niedriges Steuersystem beibehalten und gleichzeitig den freien Fluss von Kapital, Informationen, Waren und Fachkräften gewährleisten« – so geht es in der Verlautbarung Absatz für Absatz weiter.

    Ein Land, zwei Systeme

    Moment mal: Ist Hongkong nicht seit 1997 Teil des kommunistischen Chinas, das zwar den Kapitalismus mag, dem Liberalismus aber skeptisch und der Demokratie ablehnend gegenübersteht. Die offizielle Kompromissformel heißt »Ein Land, zwei Systeme«, was sich auf die Mehrparteiendemokratie und das angelsächsische »common law« bezieht, welches nicht auf geschriebenen Gesetzen, sondern auf Richterrecht beruht. Hongkong wiederholt gebetsmühlenhaft, dass es am Grundsatz »One country, two systems« festhält, verschweigt aber, dass der Freiheitsindex des Fraser Instituts gerade daran zweifelt und deshalb den Stadtstaat im Vergleich zu früher herabgestuft hat (was immer noch für den Spitzenplatz reicht). Persönliche Freiheiten, Meinungs- und Versammlungsfreiheiten würden eingeschränkt, Eigentumsrechte seien gefährdet. Wir haben die Bilder der für demokratische Rechte demonstrierenden Studenten noch im Kopf, denen ein hartes Polizeitaufgebot entgegenstand. Sieht so das freieste Land der Welt aus?

    Vielleicht sollten wir von einer Vielfalt der Liberalismen sprechen, wie es sich auch eingebürgert hat, von einer Vielfalt der Kapitalismen zu sprechen. Die soziale Marktwirtschaft Deutschlands – der »rheinische Kapitalismus« – ist ziemlich anders als der angelsächsische Kapitalismus oder der nordeuropäische Wohlfahrtsstaat. Aus Hongkong kontert man ziemlich verärgert, man werde sich nicht vom »Westen« vorschreiben lassen, was Freiheit sei. Aus asiatischer Sicht diente der westliche Liberalismus stets auch der ideologischen Verbrämung des westlichen Imperialismus. Das ist zwar maßlos übertrieben, aber gleichwohl nicht völlig falsch: Hongkong wurde im Jahr 1841 zu einer britischen Kronkolonie, Ergebnis des ersten Opiumkrieges. Es ist wohl kein Zufall, dass das Konzept des »Westens« als universalistisches Programm auf das Jahr 1840 datiert werden kann, wie ein gerade erschienenes Buch des Ideenhistorikers Georgios Varouxakis zeigt (»The West. The History of an Idea«. Princeton University Press). Danach war es der französische Philosoph Auguste Comte, der, beeinflusst von dem deutschen Historiker Arnold Heeren, den Begriff L›Occident einführte: Westliche Werte als Exportprodukt für die ganze Welt.
    Hongkong ist dabei, sich aus der Abhängigkeit dieses Liberalismus zu befreien. Stattdessen beharrt der Stadtstaat darauf, man können ein prosperierendes Land sein, ohne sich den spezifischen liberalen Werten des Westens unterzuordnen. Der anhaltende Zufluss internationalen Finanzkapitals bestätigt diese Auffassung. Ebenso der Blick nach Singapur oder in den mittleren Osten. Es geht also nicht einfach um eine Schwarz-Weiß-Sicht nach dem Motto: Entweder liberal oder illiberal. Vielmehr gibt es unterschiedliche Ausprägungen des Liberalismus. Das chinesische Rechtsempfinden beruhe im Gegensatz zum harten angelsächsischen Common Law auf Regeln des Dialogs und des harmonischen Austauschs und der Mediation, sagt Hongkong. Es wäre billig, solche Auffassungen lediglich als Camouflage eines Autoritarismus entlarven zu wollen. Man würde damit auch nicht viel bewirken. Denn Hongkong stellt sich gerade neu auf als sicherer Finanzhafen der von China betriebenen neuen Seidenstraße, attraktiv auch für Kapital aus den Golfstaaten, wie ich der jüngsten Ausgabe des »Economist« entnehme.

    Wenn es eine Vielfalt der Liberalismen gibt, dann gibt es einen Wettbewerb der Ideen, was noch nie geschadet hat. Ich persönlich würde am liebsten in einem Staat leben, der in der Tradition des westlichen Liberalismus individuelle Freiheitsrechte absolut garantiert und gegen staatlich-paternalistische Übergriffe verteidigt. Ich würde aber auch gerne in einem Staat leben, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert und der mit Augenmaß umverteilt, die Steuersätze niedrig hält und das Schuldenmachen stark einschränkt. Womit wir aus Hongkong wieder im deutschen Herbst der ausbleibenden Reformen angekommen wären.

    Rainer Hank