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  • 20. Oktober 2020
    Home Office forever?

    Das »ganze Haus« Foto Brian Wangenheim/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Bloß nicht: Es wäre ein fatal.

    Ende der neunziger Jahre verbrachte ich ein paar Monate als »Visiting Scholar« am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Weil man nicht so recht wusste, was mit mir anstellen, wurde ich in ein gerade im Aufbau befindliches »Center of Industrial Performance« gesteckt. Dort hatte man Professoren unterschiedlicher Fakultäten zusammengewürfelt – darunter einen Atomphysiker, eine Politikwissenschaftlerin, einen Maschinenbauer und einen Ökonomen –, die die Bedingungen von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit erforschen sollten.

    Was mich am MIT faszinierte, war das flexible Organisations- und Arbeitsprinzip dieser Universität: In einem schmucklosen Gebäude auf dem ohnehin schmucklosen Campus wurde im Handumdrehen eine Büroetage freigeräumt (es gab sogar Räume ohne Tageslicht): Unabdingbar war es, dass die Wissenschaftler am Center ihre angestammten Plätze in ihren Fakultäten verließen, um in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren jeweils fachfremden Kollegen zu arbeiten. Menschen sind taktile Wesen; Kreativität hat auch eine räumliche Komponente, so erlebte ich es. Die Kargheit der Büro-Umgebung war weniger Ausdruck von Sparzwang (das MIT ist bekanntlich ziemlich reich), sondern hatte System: Leere Räume sind eine Art Container, in denen sich Neues entwickeln lässt. Von Innenarchitekten stylish möblierte Räume hingegen geben zu viel vor und ermüden den Geist.

    Auch Gebäude sind lernfähig

    Was ich damals intuitiv spürte, hätte ich einem 1994 erschienen Buch von Stewart Brand entnehmen können, das den Titel trägt: »Wie Gebäude lernen: Was passiert, nachdem sie gebaut wurden?«. Brand, ein verrückter kalifornischer Aktivist und Buchautor, vertritt die These, dass Gebäude nicht nur Kreativität ermöglichen (oder verhindern), sondern ihre Geschichte an die nachfolgenden Nutzer weiterreichen. Das klingt esoterisch, ist es aber nicht. Brands Vorzeigebeispiel ist das »Building 20« auf dem MIT-Campus, eine Art Baracke, ursprünglich während des Zweiten Weltkriegs hastig und nur temporär errichtet zum Zweck der militärischen Radarforschung. Die Baracke hat sich, anders als geplant, bis 1998 gehalten und über die langen Jahre bahnbrechende Forscher beherbergt. Die »MIT Electronic Research Society« (MITERS) zum Beispiel erkundete die Grundlagen dessen, was man später »Hacker Culture« nennen sollte. Und der berühmte Linguist und linke Aktivist Noam Chomsky erforschte die Tiefenstrukturen der generativen Grammatik in einem »schäbigen Loch«, wie er selbst sagte. Als sozialer Treffpunkt auf den Etagen diente ein schlichter Verkaufsautomat mit billigen Süßigkeiten. Für Grabenkämpfe und Kompetenzstreitereien bot diese Arbeitsumgebung keinen Anlass. Stattdessen erlaubte die provisorische Anlage der Räume, sie jeweils für aktuelle Forschungsideen zu »missbrauchen«, wie ein Beteiligter sagte.

    Warum ich diese Geschichten über die kreative Kraft von Arbeitsräumen erzähle? Sie machen deutlich, was verloren geht, sollten wir in der Nach-Corona-Zeit uns alle in unsere häuslichen Büros in den Vorstädten Münchens, Frankfurts oder Berlins verkriechen. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt: Ein KPMG-Team oder eine Abteilung der Deutschen Bank sind keine MIT-Forschungsgruppe. »Building 20« ist das Gegenmodell zur eintönigen PowerPoint-Kultur von heute. Aber der Grundsatz »Sage mir, wo und mit wem Du arbeitest, und ich sage Dir, wie aufregend die Arbeitsergebnisse sind« gilt auch jenseits amerikanischer Eliteuniversitäten. Oder, sagen wir es drastischer, »remote« im Reihenhaus zu arbeiten, ist nichts anderes als die Steigerung jener Eintönigkeit, die heute schon in vielen Büros regiert – obwohl für deren Einrichtung zahlreiche Feng Shui-Experten satte Honorare kassiert haben.

    Das »ganze Haus«

    Inzwischen sieht es danach aus, als ob wir auf dem besten Weg seien in eine dauerhafte Home-Office-Welt jenseits von Corona. Das liegt nicht etwa daran, dass davon bessere Arbeitsergebnisse zu erwarten wären, sondern dass das Homeoffice für alle der bequemste Weg ist: Arbeitgeber sparen sich teure Büroetagen in den besten innerstädtischen Bezirken und streichen Dienstreisen, wo sie doch eine ordentliche Summe Geld für die neue Zoom-IT-Infrastruktur ihrer Angestellten ausgeben haben, die sich nun auch amortisieren muss. Das kommt den Arbeitnehmern sehr entgegen, die ihr schnuckeligen Häuschen im Grünen gar nicht mehr verlassen wollen und stressige Fahrten zu Rush-Hour Zeiten vergessen dürfen. Fünfzig Prozent der Arbeitnehmer in Europa wollen künftig mindestens einen Tag zuhause Arbeiten, hat jüngst eine Befragung der Stanford Universität ergeben; in Amerika wollen nur noch zwanzig Prozent dauerhaft im Büro arbeiten. Das schont die Umwelt, lässt Klimaaktivisten jubeln, und obendrauf gibt es von Arbeitsminister Hubertus Heil auch noch eine Gesetzesinitiative, die einen Rechtsanspruch auf das Homeoffice für jedermann verbürgen will. Warum eigentlich sagen alle immer »von zuhause aus arbeiten«, anstatt einfach »zuhause arbeiten«? In der Formulierung steckt zumindest als sprachliche Reminiszenz noch die Richtung zum Büro, eine Wegstrecke, die zu durchmessen man sich bald dauerhaft schenken will.

    Was mir nicht einleuchtet ist die Behauptung, im Homeoffice zu arbeiten sei eine besonders fortschrittliche Entwicklung. Mit scheint es eher ein Rückschritt in eine vormoderne Welt, die noch nichts von den Segnungen der Arbeitsteilung gehört hat. Arbeitsteilung heißt ja nicht nur, dass ein Produkt am Fließband in unterschiedliche Arbeitsgänge aufgeteilt wird. Arbeitsteilung nennen wir auch die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Europa durchgesetzt hat. Am Arbeitsplatz gibt es Kollegen, zuhause gibt es die Familie; die jeweiligen sozialen Beziehungen sind sehr unterschiedlich. Der vormoderne Vorläufer ist das Ideal des »ganzen Hauses«: Da war das Haus zugleich Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Herrschaftsverband. Als wirtschaftliche »Nahrungsstelle« und soziale Grundeinheit war das »ganze Haus« gekennzeichnet durch die Einheit von Produktion und Reproduktion, wie die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger schreibt. Gruppiert um die Kernfamilie aus Ehepaar (»Arbeitspaar«) und unverheirateten Kindern, umfasste das »ganze Haus« darüber hinaus alle an der Hauswirtschaft Beteiligten (Gesinde, Alte, unverheiratete Verwandte). Man kann das Konzept, wie in der Nazizeit geschehen, verklären als romantisches Gegenbild zur Moderne. Man kann es aber auch kritisieren als autoritäres, vordemokratisches und patriarchalisches Ideal einer autarken Subsistenzwirtschaft.

    Wollen wir wirklich zurück ins »ganze Haus«? Die Soziologin Jutta Allmendinger hat Recht, wenn sie beklagt, dass die Homeoffice-Welt Frauen wieder ihre gestrige Rolle für Kinder und Küche anbietet. Sie übersieht freilich, dass das weniger an den bösen Patriarchen liegt als am historischen Muster, in das wir gerade dabei sind zurückzufallen. Eigentlich waren wir längst in einer Welt angekommen, in der Frauen und Männer die Trennung von Heim und Büro als einen emanzipatorischen Fortschrittsakt angesehen haben. Dabei soll es bleiben. Das dauerhafte Homeoffice wäre ein jämmerlicher Rückschritt.

    Rainer Hank