Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen21. Dezember 2022
»Hier sitze ich«Der Klimawandel ist kein Grund für zivilen Widerstand
Die Klimaaktivisten der »Letzten Generation« veranstalten radikale Proteste, mit denen sie die Dringlichkeit von Maßnahmen gegen die Erderwärmung verdeutlichen wollen. Das sind Blockaden, bei denen sich Aktivisten an Straßen festkleben oder Attacken mit Lebensmitteln auf Gemälde in Museen. Bundesumweltministerin Steffi Lemke sagt, sie halte diese Aktionen für »absolut legitim«. Frau Lemke irrt.
Die Aktivisten berufen sich auf ein Recht zum zivilen Ungehorsam. Darunter versteht man Protestaktionen, die sehenden Auges gegen Gesetze verstoßen. Die Aktivisten berufen sich auf legitime Ziele. Legitimität soll den Verstoß gegen die Legalität rechtfertigen.
Es geht mir hier nicht um die vielfacht diskutierte Frage, ob der Protest vom hehren Transformationsziel ablenkt und den Blick stattdessen auf Probleme der Verkehrs- oder Museumsbehinderung fokussiert. Ich bestreite vielmehr, dass die Aktivisten sich zurecht auf die Tradition des zivilen Widerstands berufen können.
»Zivil« am »zivilen Ungehorsam« ist nicht, dass es bei den Formen des Protestes zivilisiert zugeht, sondern, entsprechend dem englischen Wort »civil«, dass es eine »bürgerliche« Gehorsamsverweigerung den gewählten Repräsentanten gegenüber ist. Entstanden ist die Widerstandspraxis – zugleich auch ihre Theorie – in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Protest gegen die amerikanische Sklavenhaltergesellschaft. Der Dichter Henry David Thoreau (1817 bis 1862) vertrat in seinem Traktat über den »Widerstand gegen eine bürgerliche Regierung« von 1849 die Auffassung, es sei vom Gewissen geboten, einem Staat, der Sklaverei erlaube, die Steuern vorzuenthalten. Hier zeigt sich schon der Unterschied zur heutigen Empörungsfolklore: Gefolgschaftsverweigerung einem demokratisch verfassten Staat gegenüber hat ihren Ursprung nicht in der kollektiven Gesinnungsbewegung, sondern in der Gewissensentscheidung des Einzelnen. Sie nimmt in Kauf, für die Folgen dieser Entscheidung in Haftung oder eben in Haft genommen zu werden.
Deutschland ist kein Unrechtsstaat
Dies ist der eklatante Unterschied zwischen den heutigen Freunden des zivilen Ungehorsams und der Tradition, derer sie sich bemächtigen: Illoyalität muss glaubhaft machen, dass der Staat, dem die Gefolgschaft verweigert wird, zumindest in Teilen ein Unrechtsstaat ist. Das liegt auf der Hand, wenn es um Sklaverei geht, die nach übereinstimmendem Urteil von Recht und Vernunft den Menschenrechten und der Menschenwürde widerspricht.
Das Urteil »Unrechtsstaat« mag womöglich weniger eindeutig ausfallen, wenn es um den Krieg der Amerikaner in Vietnam geht, dessen Legitimität allerdings fraglos auf wackligen Beinen stand. Kein Wunder, dass ziviler Ungehorsam bis heute mit der pazifistisch begründeten Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe in Verbindung gebracht wird. In einer solchen Situation der »Fast-Gerechtigkeit« hält der Philosoph John Rawls es für erlaubt, den Gesetzen eines Staates nicht zu gehorchen, somit illoyal zu sein. Ein liberaler Staat zeigt seine Liberalität gerade darin, dass er die Widerständler gewähren lässt, obwohl er das Recht hätte, das Treiben zu beenden und auf sein Gewaltmonopol zu pochen. Dass er es nicht tut, schwächt ihn nicht, sondern verleiht ihm Stärke.
Diejenigen, die zivilen Ungehorsam üben, müssen eine klare Begrenzung ihrer Aktionen auf offenkundig ungerechte Strukturen in Staat und Gesellschaft beachten. Zwar darf auch in einer Demokratie die Mehrheit die Minderheit nicht terrorisieren. Und natürlich gibt es aus guten Gründen das Recht zu demonstrieren: das in der Verfassung garantierte Recht der Versammlungsfreiheit. Der Bürger ist keineswegs ein williger Untertan der Obrigkeit. Das bedeutet aber gerade nicht, dass eine Minderheit einen Gesetzesbruch mit übergeordneten Zielen legitimieren und der demokratisch zur Macht gekommenen Mehrheit eines Rechtsstaates nach Gutdünken die Treue verweigern darf.
Es scheint mir evident, dass die Bedingungen zum zivilen Widerstand, auf welche die Letzte Generation sich berufen will, nicht gegeben sind. Die Regierungen der demokratischen Staaten haben den Klimawandel nicht zu verantworten, während frühere Regierungen sehr wohl für die Sklaverei oder den Vietnamkrieg verantwortlich waren. Das ist keine Nebensächlichkeit. Der Klimawandel, so bedrohlich er ist, ist eine hochriskante Nebenfolge des technischen Fortschritts, keine böse Tat von Staaten oder Firmen. Und die Staaten versuchen – wie unzureichend auch immer – seit dem Kyoto-Protokoll von 1997 dem Klimawandel zu Leibe zu rücken. Dieses politische Handeln lässt sich als halbherzig kritisieren. Aber es lässt sich beim besten Willen nicht als Handeln eines Unrechtsregimes qualifizieren und als Berechtigung verwenden, dagegen mit zivilem Widerstand vorzugehen. Zumal ein Land einziges allein wenig ausrichten kann, so lange es nicht gelingt, einen Club der Willigen zu gründen.
Lübbe lesen!
Vollends wirr wird es, wenn die Jung-Aktivistin Jana Mestmäcker in einem Gespräch mit dem Alt-Aktivisten Daniel Cohn-Bendit in der »Zeit« zu Protokoll gibt, die Letzte Generation werde ihre Aktionen einstellen, sobald es in Deutschland ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern und ein dauerhaftes 9–Euro-Ticket gäbe. Donnerwetter – da hatten wir Größeres erwartet: Reformen in diesem kleinen Karo gehören ins Parlament; die Erderwärmung wird dadurch ohnehin nicht gelindert.
Der Philosoph Hermann Lübbe hat 1984 in zwei Vorträgen über den »politischen Moralismus« vor dem Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft gewarnt. Die schmale Schrift, Anfang 2019 neu aufgelegt, wirkt beim Lesen überraschend frisch. Lübbe nimmt sich den prominenten Satz Immanuel Kants vor, das Gewissen könne nicht irren, und sucht ihn gegen seine ideologisch-willkürliche Inbesitznahme zu retten. Die Berufung auf das Gewissen ist der Angelpunkt des zivilen Widerstands. Es ist die Priorisierung des individuellen Handlungsgebots gegen die Pflichten von Sitte, Sittlichkeit, Moral oder Recht. Gerade in der christlichen Theologie, die gerne als dogmatisch kritisiert wird, genießt das Gewissen einen hohen Stellenwert.
Wäre mit dem Pochen auf das Gewissen jedoch die subjektive Beliebigkeit jedweder abweichenden Gesinnung gerechtfertigt, alles und jedes, was mir nicht passt, als Ausdruck des Gewissens zu deklarieren, wäre es am Ende nicht mehr als die Heiligung der Willkür. Das Gewissen ist indes das Gegenteil von spontaner Einfallswillkür der reinen Innerlichkeit. Es ist, so Lübbe, eine Art der vergegenwärtigenden Erinnerung an die tradierten Überzeugungen von Recht und Moral. Das nimmt ihm den heroisch subjektivistischen Habitus des dezisionistischen »Hier sitze ich, ich kann nicht anders.«
Rainer Hank