Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen12. Oktober 2022
Gesellschaft der AngstWas die Freiheit jetzt nötig hat
Am 3. März 1933 eröffnete Franklin D. Roosevelt seine zwanzigminütige Rede zur Amtseinführung als neuer Präsident der USA mit folgenden Worten: »Lassen Sie mich zunächst meinen festen Glauben bekräftigen, dass das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, die Angst selbst ist.«
Das Diktum Roosevelts – »the only thing we have to fear is fear itself« – wurde weltberühmt. Es als Ausdruck einer realitätsleugnenden Verdrängung der Gefahren zu deuten, wäre ein Missverständnis. Roosevelt war sich der katastrophalen Lage der Welt bewusst. Es war zum Fürchten. Die Vereinigten Staaten steckten nach dem Börsencrash in einer schweren Wirtschaftskrise und einer schier endlosen Depression. Inflation, Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverluste – und nirgends ein Ausweg. Die Weltlage jenseits Amerikas war nicht besser: In Deutschland war Hitler gerade an die Macht gekommen. Und in der Sowjetunion verkündete der Diktator Josef Stalin wirtschaftliche Erfolge der sozialistischen Planwirtschaft, die – was man sich heute nur noch schwer vorstellen konnte – auch viele westlichen Intellektuellen tief beeindruckte. Ob die liberale Demokratie und Marktwirtschaft noch in der Lage waren, mit der Krise fertig zu werden, war ungewiss. Womöglich gehörte die Zukunft der autokratischen Konkurrenz: den Faschisten und Kommunisten.
In dieser Situation kommt Roosevelt zu Beginn seines Regierungsprogramms nicht auf seinen ökonomischen Kraftakt zur Rettung der Wirtschaft zu sprechen, den »New Deal«. Er doziert auch nicht über Demokratie, Gewaltenteilung und liberale Werte. Sondern er begibt sich auf das Gebiet der Psychologie, das starke Gefühl der Angst, welchem er freilich jegliches bloß subjektiv Stimmungshafte nimmt. Roosevelt selbst stand mit seiner Person für die Aufforderung, die Angst vor der Angst zu fliehen. Nach einer privilegierten Kindheit hatte er sich mit Polio infiziert, eine Erkrankung, die ihn seit 1921, im Alter von 39 Jahren, zum Invaliden machte und an den Rollstuhl fesselte. Seinem Lebensmut tat dies keinen Abbruch. Wenn man will, kann man an den deutschen Politiker Wolfgang Schäuble denken, um zu verstehen, wie paradoxerweise ein schweres Schicksal ein Weg zu Angstfreiheit werden kann.
Angst leugnet das Wirkliche
Freie Menschen sollen keine Angst vor der Angst haben, wie der Soziologe Heinz Bude in seinem Essay über die »Gesellschaft der Angst« in Anlehnung an Roosevelt schreibt: Menschen, die Angst haben, zahlen einen Preis: die Aufgabe ihrer Selbstbestimmung. »Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche«, so Bude. Gewiss ist Angst stammesgeschichtlich ein Überlebensmechanismus, der uns auf reale Gefahren hinweist. Aber die Angst vor der Angst macht die Menschen abhängig von Verführern, Betreuern und Spielern. Deshalb, so muss man Roosevelt verstehen, ist es die erste Aufgabe staatlicher Politik, den Bürgern die Angst zu nehmen.
Wichtig ist es, den Zusammenhang zwischen Angst und Freiheit zu sehen. Angstfreiheit, »Freedom from fear«, gehörte für Roosevelt zu jenen vier Grundfreiheiten, die er mitten im Krieg als unveräußerlich deklarierte: Die Menschen haben ein Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit. Und sie sollen frei von Armut und Angst sein. In den damaligen Kriegszeiten klang das utopisch. 1948 gingen diese vier Freiheiten in die Präambel der UN-Menschenrechtskonvention ein. Für Thomas Mann war Roosevelt Held und Symbol für den »Endsieg« der Demokratie in Zeiten ihrer größten Gefährdung.
Wir Deutschen gelten als besonders ängstlich. Da könnte etwas dran sein. »German Angst« ist bekanntlich eine Wendung, die ins Englische als Lehnwort eingegangen ist. Grund für diese deutsche Angst ist keine genetische oder psychologische Sonderheit, sondern die historische Erfahrung. Der Schrecken der Hyperinflation vor hundert Jahren sitzt uns in den Knochen, wird bewusst oder unbewusst von Generation zu Generation übertragen. Dass wir bis Anfang dieses Jahres über fast zwei Generationen ohne nennenswerte Teuerung lebten, bewirkte allenfalls auf der Oberfläche den Eindruck, das alte Trauma sei verschwunden. Kaum steigen die Preise, sind die alten Ängste wieder da. Anders als die Finanz- und Eurokrise der Jahre nach 2008, anders auch als der Flüchtlingsschock 2015, wird die Inflation für jedermann ganz konkret: im Supermarkt, an der Tankstelle, auf der Gasrechnung.
Berlin leuchtet
Das ist nicht alles. Es gibt weitere in unserer Geschichte verwurzelte Ängste. Ganz vorne stehen dabei die Angst vor einem Atomkrieg und die Angst vor einer nuklearen Katastrophe der friedlich genutzten Kernenergie. Hinzu kommt die Angst davor, dass der menschengemachte Klimawandel uns selbst und die ganze menschliche Zivilisation abschaffen könnte. Der Historiker Frank Biess hat vor ein paar Jahren die Geschichte Nachkriegsdeutschlands als »Republik der Angst« beschrieben und mehrere Angstzyklen identifiziert. Es ist sozusagen der Schatten zur Erfolgserzählung von Wirtschaftswunder, stabiler liberaler Demokratie und scheinbar ungebremstem Fortschrittsoptimismus, der uns bis heute verfolgt. Die Westdeutschen konnten sich nach 1945 nie völlig sicher sein, dass sich der Staat in eine friedliche, wohlhabende und relativ pluralistische demokratische Gesellschaft entwickeln würde. Das mündet jetzt in die Furcht, das 21. Jahrhundert könnte zu einem »Zeitalter der Angst« werden, wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze meint.
Das Fatale an der augenblicklichen Lage ist, dass alle unsere historisch überkommenen Ängste gleichzeitig mobilisiert werden: Inflation, Atomkrieg, Nuklearkatastrophe und Klimawandel. Das kann einem schon den Schneid nehmen – und am Ende zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Umso wichtiger wäre es, dass Politiker alles tun, die Lähmung durch die »Angst vor der Angst« zu kontern und sich mit realistischem Blick zu Angstfreiheit als wichtigem Freiheitsrecht bekennen. Roosevelts Optimismus passt besser als Churchills »Blut, Schweiß und Tränen«-Predigt in unsere Zeit. Wer Angst macht vor dem kommenden kalten und dunklen Winter (Robert Habeck) oder »Volksaufstände« (Annalena Baerbock) an die Wand malt, spielt jenen extremen Politiker von rechts und links in die Hände, die dafür plädieren, vor Putin zu kapitulieren.
Ich erinnere mich, wie ich Mitte der achtziger Jahre nach einer dreiwöchigen Seminarreise ins sozialistische Polen und einer Fahrt durch die DDR am späten Abend mit dem Auto Westberlin erreichte. Vorher war es stockdunkel, Berlin aber leuchtete hell. Diese Lichter waren für mich das Symbol für den freien Westen (und seine Werte). Wir sollten jetzt nicht – im übertragenen wie im konkreten Sinn – aus Angst die Lichter im Land ausgehen lassen.
Rainer Hank