Rainer Hank als Illustration

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  • 26. Januar 2022
    Geduld zahlt sich aus

    Da braucht es viel Geduld Foto: Bundesregierung

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Schicksal und Charakter

    Was haben Olaf Scholz und Friedrich Merz gemeinsam? Beide Männer zeichnet ein hohes Durchhaltevermögen aus und die Fähigkeit, selbst bei wiederholten Niederlagen nicht aufzugeben. »Stehaufmännchen« hätte man die beiden früher genannt. Heute sprechen wir geschlechtsneutral von Frustrationstoleranz und Resilienz. Scholz wäre gerne SPD-Vorsitzender geworden. Das hat bekanntlich nicht funktioniert. Anstatt den Bettel hinzuwerfen, ließ er sich im Sommer 2020 als Kanzlerkandidat ins Rennen schicken als allein der Gedanke zu höhnischem Gelächter führte (zum Beispiel bei Ex-Kandidat Peer Steinbrück). Heute klingt »Bundeskanzler Olaf Scholz« schon fast so selbstverständlich wie »Bundeskanzlerin Angela Merkel«, während man eine Weile nachdenken muss, wie der oder die SPD-Vorsitzende heißt.

    Friedrich Merz wurde von Angela Merkel 2004 als Vorsitzender der CDU-Fraktion entmachtet. Seitdem sinnt der Mann auf Rache und auf den CDU-Vorsitz. Zwei Mal ging das knapp daneben. Merz ließ sich nicht entmutigen: An diesem Wochenende wird es endlich so weit sein. Ein digitaler Parteitag wählt ihn zum Nachfolger von – wie hieß der nochmal? 18 Jahre sind seit seiner großen Niederlage ins Land gegangen. Durchhaltevermögen gewürzt mit süßer Lust auf Rache bürgen am Ende für den Erfolg.
    Geduld ist eine Tugend, braucht aber Zeit. Ungeduld ist eine Untugend, kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Leonard Mlodinow, Sohn von Holocaust-Überlebenden, erinnert in einem gerade erschienenen Buch über »Emotionen« an den Bericht seiner Eltern über ihre Befreiung aus dem KZ Buchenwald. Die alliierten Soldaten verteilten großzügig frisches Wasser, Zigaretten, Schokolade und andere Nahrungsmittel. Während Moshe, ein anderer Überlebender, eine ganze Salamiwurst aufaß, hielt Mlodinows Vater sich zurück. Wenig später klagte Moshe über unerträgliche Darmbeschwerden; am folgenden Tag war er tot. Vater Mlodinow überlebte dank seiner Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Zurückhaltung.

    Geduld als Tugend hat bei Ökonomen eine steile Karriere durchlaufen. Fast habe ich den Eindruck, die neue Mode habe die Glücksforschung in den Hintergrund geschoben. Geduld werde dramatisch unterschätzt, wird der Bonner Max-Planck-Forscher Matthias Sutter nicht müde uns einzuschärfen. Die akademische Übersetzung der Geduld heißt Zeitpräferenz: Es geht um die Fähigkeit, einem künftigen Nutzen gegenüber dem unmittelbaren Genuss den Vorzug zu geben. Im Abwägen zwischen Zukunft und Gegenwart sollen wir dem Kommenden eine Chance geben. Der Zins lockt die Menschen, ihr Geld nicht zu verprassen, sondern zu sparen und es anderen zu überlassen, um es zu investieren. Überlegen Sie selbst, ob Sie lieber auf der Stelle 100 Euro oder 110 Euro in drei Wochen hätten. Oder, falls 110 Euro zu wenig sind: Wie hoch muss der Zinsaufschlag sein, damit Sie die 100 Euro auf die Hand ausschlagen? Nebenbei: Was wird aus der Geduld in Zeiten von Niedrig- oder Negativzinsen?

    Präferenzen sind nicht gottgegeben

    Wer seine Ungeduld im Griff hat, wird es im Leben zu mehr bringen und am Ende ein größeres Vermögen haben. Das gilt auch für ganze Länder: Dort, wo die Bevölkerung im Durchschnitt zu mehr Selbstkontrolle in der Lage ist, messen die Ökonomen ein höheres Bruttosozialprodukt pro Kopf. In den USA, der Schweiz, Schweden oder Israel leben anscheinend geduldige Menschen. Auch Deutsche und Franzosen warten ab, Spanier und Italiener können es hingegen kaum erwarten. Geduld ist eine Einzahlung auf den Wohlstand der Nationen.

    Geduld oder Ungeduld würden wir als Charaktereigenschaft bezeichnen. Der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr definiert Präferenzen als »tief verankerte – aber formbare – Bedürfnisse, welche die motivationale Grundlage unserer grundlegenden Verhaltensneigungen darstellen«. Fragt man, woher die Präferenzen kommen und ob sie sich verändern lassen, fällt die Antwort der Ökonomen enttäuschend aus. Ob einer eher altruistisch oder egoistisch handle, ob er risikoavers oder -afin sei oder eben ungeduldig oder geduldig, nehmen sie als gegeben: als offenbart (»revealed«), eine Art theologischer Ausflucht.

    Fehr, ein internationaler Star seiner Zunft, lässt sich mit solchen Ausreden nicht abspeisen. »De gustibus est disputandum«, über Geschmack lasse sich streiten, so die Überschrift seiner Hayek-Vorlesung am Walter-Eucken-Institut vom vergangenen Dezember. Es lohnt sich die Vorlesung auf Youtube anzusehen. Ökonomie definiert Fehr als »Wissenschaft von der Präferenzentstehung und Charakterbildung«. Als Student hätte man ihn mit dieser These vermutlich der Universität verwiesen – oder aber ihn auf die Liste künftiger Nobelpreisträger setzen lassen.

    Fehr zeigt mit einer Fülle von Experimenten: Präferenzen entstehen in der frühen Kindheit. Sie sind nicht gottgegeben, sondern lassen sich verändern. So wurden Kinder zwölf Wochen lang in Grundschulen darin geschult, in vorausschauender Weise zu handeln und die Fähigkeit auszubilden, sich zukünftige Konsequenzen alternativer Handlungen vorzustellen und zu bewerten. Es geht darum, Selbstkontrolle auszuüben, wenn man Versuchungen spürt, »vernünftig« einzukaufen und auf ein Ziel hin zu sparen. Es gehe nicht generell darum, geduldig zu sein; manchmal schade Geduld, sondern vorausschauend zu handeln und künftige Konsequenzen in sein Handeln einzubeziehen. Die Kinder hatten zum Beispiel die Wahl, heute wenige Geschenke zu bekomme oder viele Geschenke in zwei Wochen.

    Geduld macht egoistisch

    Kinder, die diesen besonderen Gedulds-Unterricht durchliefen, waren danach deutlich aufmerksamer und weniger impulsiv als Mitschüler in Kontrollgruppen. Sie lernen, dass ein langer Atem und nachhaltige Anstrengung sich lohnen. »Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen.« Die Bereitschaft wächst, »bei der Sache zu bleiben« und heute »Kosten« zu tragen, die morgen einen möglichen Ertrag abwerfen.

    Der Intelligenzquotient ist genetisch geprägt, das soziale Milieu ist von der Familie vorgegeben. Da lässt sich wenig machen. Beim Charakter ist das anders. Präferenzen lassen sich tatsächlich »zum Guten« verändern. Das ist die gute Botschaft.

    Doch wer bestimmt, welche Präferenzen wie verändert werden dürfen? Kinder, die am Ende der genannten Versuche geduldiger waren, waren – unintendiert – leider auch egoistischer geworden, weniger altruistisch oder empathisch. Weil sie es geschafft hatten, dachten sie: Jeder kann es schaffen. Meritokratische Erfahrungen, wonach jeder seines Glückes Schmied ist, lassen das Mitgefühl erkalten. Das bringt die Pädagogik der Präferenz-Ökonomen in Konflikte: Welchen Präferenzen geben wir den Vorzug, wenn es Trade-Offs (zwischen Geduld und Egoismus) gibt? Gott bewahre uns vor einer regierungsamtlichen Präferenz-Kommission!

    Rainer Hank