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  • 14. September 2022
    Freiheit konkret

    Lea Ypi Foto: Random House

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lea Ypis Jugend in Albanien

    Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet. Nicht bis zum Tag, als ich Stalin umarmte. Mit diesen Sätzen – Hammer-Sätze! – beginnt die Autobiografie der albanischen Autorin Lea Ypi: »Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.«

    Man muss das Buch noch ein bisschen weitererzählen. Von der Freiheitsliebe Stalins nämlich wusste die kleine Lea, damals elf Jahre alt, durch ihre verehrte Lehrerin Nora. Stalin werde von den Imperialisten und Revisionisten immer als »kleiner Mann« herabgewürdigt, klagt Nora. Was aber gar nicht stimme. Lea glaubt alles und bringt zum Vergleich Napoleon ins Spiel, von dem ihre Großmutter sage, der sei auch klein gewesen. Und der Lehrer von Marx, ein Mann namens »Hegel oder Hängel« habe in Napoleon den Weltgeist zu Pferde erkannt, doziert die Schülerin. Die Lehrerin stellt richtig: Hängel heiße dieser deutsche Philosoph. Hätte Hängel später gelebt, hätte er mit Sicherheit auch in Stalin hoch auf einem Panzer den Weltgeist erkannt. Lea jedenfalls war überzeugt, in der freiesten aller freien Welten zu leben, damals im Albanien des Jahres 1990. Sprechchöre von Umstürzlern, die »Freiheit, Demokratie«, skandierten verstand sie nicht.

    Es gehört zu den Stärken Ypis, dass sie konsequent aus der Perspektive des Mädchens erzählt, das erwachsen wird in den Jahren der Transformation von einem stalinistischen »Musterstaat« zu einer liberalen Demokratie. Die kleine Lea kennt ja nur die »sozialistische« Welt. Dass es eine freie Welt sei, hört sie von der gebildeten Großmutter und der Lehrerin Nora, denen sie blind vertraut. So wie das alle Kinder tun. Und wenn die Lehrerin sagt, dass Stalin mit seinen Augen so schön lächle, und dass der Lehrer von Marx eben Hängel heiße, so glaubt ein Kind das auch.

    »Der gute Onkel Enver«

    Man kann das Buch der Lea Ypi auf verschiedene Weise lesen. Zunächst: Mit Scham. Albanien hat mich bislang nicht sonderlich interessiert. In meiner Studienzeit waren es im Wettbewerb der K-Gruppen die am meisten durchgeknallten westdeutschen Maoisten, die den kleinen Balkanstaat heroisierten, weil dort die reine Lehre des Sozialismus und Kommunismus gelehrt und gelebt werde. Das musste man selbst als Linker nicht ernst nehmen. Sodann ertappte ich mich bei der naiven Vorstellung, wer in einer Diktatur lebe, müsse sich tagein tagaus auch unfrei und eingesperrt fühlen, weil die Lebenslügen der Ideologen mit Händen zu greifen sind. Das ist offenkundig nicht so, wie man an der kleinen Lea sieht, auch an ihren Eltern, die zumindest Sympathien für das System haben und sich arrangieren. So ähnlich lässt sich wohl auch die Loyalität des russischen Volkes zu Putin verstehen, eine Bindung, die selbst durch einen verbrecherischen Angriffskrieg nicht erschütterbar wird, im Gegenteil. Das albanische Volk verehrte seinen Führer Enver Hoxha, den sie »Onkel Enver« nannten, wie ein sorgendes Oberhaupt der Familie. »Spin-Diktatoren« wie Hoxha oder Putin unterdrücken ihr Volk nicht nur mit äußerem Zwang, sondern mit plausiblen Erzählungen; das sichert die Herrschaft über die Köpfe fast von alleine.

    Schließlich aber kann man Ypis Buch als Abhandlung über die Freiheit lesen, bloß viel lustiger und spannender erzählt als es Essays über den Liberalismus üblicherweise zu tun pflegen. Ypi berichtet, sie haben ursprünglich ein theoretisches Buch über die »Deckungsgleichheit von Freiheit in der liberalen und in der sozialistischen Tradition« schreiben wollen. Das ist es tatsächlich auch geworden, freilich als lebendige Erzählung, zum Schreien komisch und verbürgt durch die Erfahrungen der heute 43 Jahre alten Autorin.
    Die Innenperspektive funktioniert so gut, dass der Leser sie – beinahe – übernimmt. Dass die Albaner nicht ins Ausland reisen dürfen (also objektiv unfrei sind), wird der kleinen Lea damit erklärt, dass dort lauter Feinde leben und der albanische Staat seine Bürger davor schützen müsse, in die Hände der Feinde zu fallen. Und dass im Kapitalismus die Menschen frei seien, wird als Ideologie entlarvt: Potentiell sei man dort schon frei, aber man brauche das nötige Geld, um seine Wünsche erfüllen zu können. Und das entbehrten viele Menschen. Was soll daran Freiheit sein? »Bei uns gab es Freiheit für alle, nicht nur für die Ausbeuter.« Dass Albanien eines er ärmsten Länder Europas war, wusste sie nicht. Dass Freunde und Bekannte in die Verbannung geschickt und in Lager gesperrt wurden, dafür redeten die Eltern nur in einem Code, der eine Fremdsprache blieb für das Kind. Die Illusion der Freiheit funktionierte perfekt.

    Die liberale Enttäuschng

    So loyal die Bürger zu »Onkel Enver« waren, so plötzlich und abrupt trennten sie sich in den neunziger Jahren vom sozialistischen System. Milton Friedman und Friedrich von Hayek übernahmen die Plätze von Karl Marx und Friedrich Engels, so erzählt es Ypi. Eine ökonomische Schocktherapie sei als letztes Opfer nötig, um den Sozialismus hinter sich zu lassen und ins Reich der wahren, der liberalen Freiheit zu kommen, so hätten es ihnen die Berater der Weltbank mit ihren bunten Lacoste-Shirts erklärt; Ypi nannte sie die Krokodile. Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Die Eltern verloren ihre Arbeit, der Vater sprach zwar vier Sprachen fließend, aber dummerweise kein Englisch und verstand nichts von Computern. Und die Freiheit? »In der Vergangenheit wäre man für den Ausreisewunsch verhaftet worden. Aber nun, da niemand mehr die Ausreise verhinderte, waren wir auf der anderen Seite der Grenze nicht mehr willkommen. Das Einzige, das sich verändert hatte, war die Farbe der Polizeiuniformen. Jetzt wurden wir nicht mehr im Namen unserer Regierungen verhaftet, sondern im Namen anderer Staaten, deren Regierungen uns früher dazu aufgerufen hatten, in die Freiheit aufzubrechen.«

    In den vergangenen Jahren sind viele Erfahrungsberichte über die »liberale Enttäuschung« erschienen. Herausragend Steffen Maus »Lütten Klein«, Anne Applebaums »Verlockung der antidemokratischen Herrschaft« oder Francis Fukuyamas »Liberalism and ist Discontents«. Lea Ypi reiht sich hier ein. Am Ende neigt sie zum Relativismus. Das liberale Freiheitsversprechen habe sich genauso wenig erfüllt wie das sozialistische. Ihre eigene Geschichte dementiert diesen Relativismus: Ohne die Revolution der neunziger Jahre wäre das kleine Mädchen aus Albanien heute nicht Professorin an der London School of Economics (mit Schwerpunkt »Theorie des Marxismus«). Das weiß sie natürlich. Am vergangenen Mittwoch twitterte Ypi: »Ruhe in Frieden, Gorbi. Ohne Dich wären all unsere Biografien anders verlaufen.« Der Wunsch, Gorbatschow möge ihr demnächst auf Russisch erscheinendes Buch in die Hand kriegen, wird sich nicht mehr erfüllen.

    Rainer Hank