Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen04. Februar 2021
Freiheit in der Pandemie (II)Wider die Corona-Müdigkeit: Jetzt muss sich zeigen, was Freiheit konkret bedeutet
Die Zeitdiagnostiker beschreiben die aktuelle Phase der Pandemie als »Corona-Fatigue«. Man kann es mit »coronamatt« übersetzen. Im Unterschied dazu erinnern wir die erste Phase im Frühjahr 2020 als »coronaängstlich«. Das ist ein riesengroßer Unterschied: Damals standen wir unter Schock, wollten alle staatlichen Anordnungen brav befolgen und wurden – scheinbar – damit belohnt, dass im Sommer alles gut sein werde. Heute ist die Angst vor Ansteckung angesichts eines Gewöhnungseffekts zurückgegangen. Doch trotz großer Anstrengungen nun schon seit November gibt es keine Erfolgserlebnisse. Mehr noch: Den immer strenger werdenden Mitteln rutschen die Ziele weg. Zwar gehen die Infektionszahlen zurück, aber wir kriegen keine Belohnung dafür. Denn jetzt lugt ja gefährlich die Mutante um die Ecke. Man mag den Mechanismus von Zuckerbrot und Peitsche als kindlich-archaisch beschreiben: Doch er wirkt eben auch bei erwachsenen Leuten. Oder anders gesagt: ist der Anreizmechanismus außer Kraft gesetzt, stellt sich Corona-Mattigkeit ein.
Angesichts der Zermürbung ist es wichtig, dass eine liberale Gesellschaft nicht alle Prinzipien über Bord wirft. Freiheit ist nicht (nur) etwas für Schönwetterzeiten, sondern hat immer Vorfahrt. Wer jetzt von Zero-Covid träumt und alles Leben abschalten will, hat mit der Freiheit gebrochen. Man sagt uns, wir müssten erst mit radikalen Maßnahmen die Freiheit einschränken, damit möglichst niemand krank wird. Wenn das dann wirkt, könnten wir auch wieder über die Freiheit reden. Der gute Zweck – »Bleibt alle gesund« – rechtfertigt im Ausnahmezustand alle Mittel. Das kommt davon, dass wir offenbar immer noch sehr im Dunkeln tappen bei der Frage, wo sich eigentlich die Menschen infizieren. Das Totschlagargument der Freiheitsgegner lautet: Wenn ihr hinterher an oder mit Corona gestorben seid, nützt euch die Freiheit auch nichts mehr.
Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?
Verhältnismäßig ist das alles schon lange nicht mehr, wie Uwe Volkmann, ein in Frankfurt lehrender Professor für Öffentliches Recht, jüngst in der hier in der F.A.Z. geschrieben hat. Verhältnismäßig heißt, die Maßnahmen müssen »geeignet, erforderlich und angemessen sein«. Oder umgangssprachlich: Man soll nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Die Freiheit des Einzelnen ist in einem liberalen Land unbegrenzt, solange sie nicht die Freiheit anderer mindert. Die Macht des Rechtsstaates ist dagegen prinzipiell begrenzt. Begründungspflichtig ist der staatliche Eingriff als Ausnahme, nicht die als Regel gesetzte individuelle Freiheit. Dieses Verhältnis von Ausnahme und Regel dient im freiheitsrechtlichen Kontext als Korrektiv, das verhindert, dass die staatliche Befugnis zur Begrenzung der Freiheitsrechte die individuelle Freiheit zu weit zurückdrängt.
Die Rhetorik der Regierung führt zwar stets die Verhältnismäßigkeit im Munde. Aber nur um zu kaschieren, dass man in Wirklichkeit mit Kanonen auf alles schießt, was sich bewegt, weil man gar nicht weiß, wo die Spatzen sitzen. Fragen der Eignung (bringt das etwas?) und der Erforderlichkeit (geht es nicht auch ein paar Nummern kleiner?), fallen unter den Tisch, moniert Uwe Volkmann. Vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bleibt dann nur noch eine ganz abstrakte Abwägung zwischen den verfolgten Zwecken (Schutz der Bevölkerung, Belastung der Kliniken) und der von ihr ausgehenden Beeinträchtigung (im Vergleich zum Zweck ist das immer akzeptabel).
Deswegen ist die Frage, wie wir in der Gesellschaft mit den gegen Corona geimpften Mitbürgern umgehen alles andere als eine Petitesse. Wer geimpft ist, sollte so schnell wie möglich in die Freiheit entlassen werden. Alles andere widerspricht den Kriterien der Verhältnismäßigkeit. Für sie muss Normalität herrschen. Sie arbeiten, reisen, gehen ins Restaurant und in die Oper. Der ökonomische Nebeneffekt: Wirtschaft und Gesellschaft kommen aus dem Stillstand heraus. Der psychologische Nebeneffekt: Freiheit wird für jedermann konkret erlebbar als eine Erzählung der Hoffnung.Die These »Vorfahrt für Geimpfte«, die ich am vergangenen Sonntag auf diesem Kolumnenplatz argumentiert habe, hat ungewöhnlich viel Resonanz gefunden. Ich will hier auf einige Kritikpunkte eingehen.
Müsste es nicht besser heißen: »Freiheit für alle, die immun sind«? Ja, das wäre in der Tat konsequent. Darunter fallen dann auch die vielen Menschen, die die Krankheit überwunden haben und gesund sind. Und alle, die ein aktuelles negatives Testergebnis vorweisen können. Hundert Prozent sicher ist das alles nicht. Da haben die Kritiker Recht. Aber wenn die Freiheit Vorrang hat, dann sollen Geimpfte so lange frei sich bewegen dürfen, bis belastbar erwiesen ist, dass sie trotz Impfung das Virus weitergeben. Ich bin kein Virologe, sagt man heute gerne. Aber ich habe genügend Aussagen von Mainstream-Virologen gelesen, man brauche sich nach derzeitigem Wissensstand keine Sorgen machen, dass die Impfstoffe gegen Mutanten wirkungslos seien. Allenfalls werde die Wirksamkeit etwas reduziert. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit gilt: Wir sperren die Bürger ja auch nicht vom Straßenverkehr aus, obwohl es viele Unfallrisiken gibt.
Wer hätte einen Schaden?
Ist es denn gerecht, Geimpfte in die Freiheit zu entlassen, obwohl noch lange Zeit nicht jeder geimpft wird, der das will? Aus Sicht der noch nicht Geimpften mag sich das ungerecht anfühlen. Aber hätten sie außer innerer Genugtuung einen Vorteil davon, dass die Geimpften so lange im Lockdown bleiben, bis alle geimpft sind? Und hätten sie einen Schaden durch die Freiheitsausübung der bereits Geimpften? Dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung und sogar die Mehrheit der Impfwilligen dagegen ausspricht, die Geimpften ins Leben zu entlassen, zeigt, wie sehr die Freiheit inzwischen auf den Hund gekommen ist.
Das alles schließt nicht aus, dass über Priorisierung der Impfung gestritten wird. So ist es immer, wenn der Preismechanismus zur Zuteilung von Gütern außer Kraft gesetzt wird und die Bürokratie Schlange stehen anordnet. Wir wollen aus guten Gründen nicht, dass derjenige zuerst an Impfstoff kommt, der am meisten bezahlt. Doch sollen die Geimpften gefangen gehalten werden, weil hinten noch viele in der Impfschlange warten? Das leuchtet mir nicht ein.
Und wie sähe das alles konkret aus? Treu und Glauben werden nicht reichen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass vor dem Betreten eines Restaurants, eines Schuhgeschäfts oder eines Gottesdienstraums der Impfpass, das Testergebnis oder das Genesungs-Zertifikat des Gesundheitsamtes vorzulegen sind. Schön sind Kontrolleure nie. Und natürlich ist nicht auszuschließen, dass der Kneipenbesitzer ein Auge zudrückt. Aber das gilt derzeit generell: Es ist auch anzunehmen, dass der ein oder andere Friseur seine Stammkunden zum Hintereingang reinlässt.
Dass das Freiheitsversprechen Anreize setzt, sich impfen zu lassen und Pharmaindustrie und Staaten unter massiven Druck bringt, ihre Impfstrategie zu forcieren, ist gewollt. Es ist evident, dass die Vorteile des Impfens deren Risiken bei weitem übertreffen. Niemand wird genötigt, sich impfen zu lassen. Solange er eine mögliche Gefahr für die Gesundheit seiner Mitmenschen bedeutet, sind ihm Einschränkungen zuzumuten.
Rainer Hank