Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen27. Februar 2024
Freie Seeufer für alleWenn Gemeinwohlinteresse auf Privateigentum trifft
Ich war ein paar Tage in Zürich. Dort tobt ein Streit über den Zugang zum See. Eine Volksinitiative verlangt, bis zum Jahr 2050 müsse ein durchgehender Spazierweg am Zürichsee gebaut werden, möglichst nahe am Ufer. Am 3. März wird darüber abgestimmt.
Da kommt Freude auf. Denn am See wohnen ja schon Menschen, es sind nicht die Ärmsten. Und die finden es überhaupt nicht lustig, sollten künftig wildfremde Menschen über ihr Grundstück spazieren. Es stört die Ruhe und mindert den Wert ihres Eigentums. Und natürlich war der exklusive Seezugang beim Kauf des Grundstücks eingepreist. Die im vergangenen Jahr verstorbene Sängerin Tina Turner soll für ihr Anwesen in der Zürichsee-Gemeinde Stäfa 70 Millionen Franken gezahlt haben. Auch der Tennisstar Roger Federer, in der Schweiz eine Art nationale Ikone, soll schon nervös geworden sein, so ist zu lesen: Der nämlich will bei Rapperswil-Jona ein Anwesen auf 16 000 Quadratmetern mit sechs Gebäuden, Pool und Tennisplätzen bauen – ein kleines Dorf, genannt »Federer City«. Auch ein Bootshaus samt Steg und Flachwasserzone gehört dazu. Einen Kaufpreis von 40 bis 60 Millionen Franken taxieren die Fachleute für das Filetstück.
Schon rechnen die Anwälte der Eigentümer den möglichen Wertverlust ihrer Seegrundstücke in Entschädigungsansprüche um für den Fall, die Initiative hat Erfolg, die sie selbstredend einer liberalen Rechtsordnung unwürdig ansehen und die sie deshalb auch prinzipiell mit allen juristischen Mitteln bekämpfen werden. Eine halbe Milliarde Franken Entschädigungskosten befürchtet die Zürcher Regierung, während die Seeweg-Initiative Kosten von lediglich 38 Millionen Franken veranschlagt. Denn das Seeufer gehöre immer schon der Allgemeinheit, die sich jetzt ihr Eigentum zurückhole.
Der Fall interessiert mich deshalb, weil er eine psychologische, eine juristische und eine ökonomische Komponente hat. Der psychologische Aspekt ist am einfachsten zu sehen. Die Emotionen sagen: Wo kommen wir hin, wenn sich die Reichen und Schönen mit ihrem vielen Geld auch noch die schönsten Plätze dieser Erde exklusiv sichern dürfen. Daran, dass die Seen nördlich und südlich der Alpen zu den schönsten Plätzen der Welt gehören, kann es keinen Zweifel geben. In der Initiative schwingt also einerseits viel Neid mit, zugleich kann man eine Gleichheits- und Gerechtigkeitsdebatte vernehmen. Denn natürlich wohnen an der Zürcher Goldküste nicht nur Menschen, die wie Tina Turner und Roger Federer ihr Vermögen mit künstlerischer und sportlicher Leistung erarbeitet haben, sondern auch Banker, Spekulanten und gerüchteweise sogar Oligarchen, bei denen das Volksempfinden noch ungnädiger zu werden pflegt als bei normalen Multimillionären.
Das Privateigentum ist heilig
Zugleich – das ist der ökonomische und juristische Aspekt – beruht die Marktwirtschaft auf einer Rechtsordnung, die das Privateigentum vorbehaltlos schützt. Für den Philosophen John Locke (16032 bis 1704) vereinigen sich die Menschen nur deshalb zu einem Staat, um einander ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Güter zu sichern: »Life, Liberty and Property« heißt die liberale Trinität, deren letztes Glied die amerikanische Verfassung durch »pursuit of happyness« ersetzt hat, das Recht, sein Glück zu verfolgen, also gerne auch an seinem Privatsee.
Bei den Seen hat die Freiheit allerdings seine Grenzen. Jedenfalls in der Schweiz, wie mir Andreas Glaser, ein Professor für Staatsrecht an der Universität Zürich, klarmacht. Wasserflächen sind dort grundsätzlich Eigentum der öffentlichen Hand. Und am Zürichsee sei sogar das Ufer lediglich als Konzession an Private vergeben worden, die das bloß vergessen hätten. »Aus meiner Sicht sind Uferwege grundsätzliche verfassungsrechtlich zulässig«, sagt Glaser; bloß eine geringe Entschädigung müsse gezahlt werden.
»Eigentum verpflichtet«, heißt es auch im deutschen Grundgesetz. Das ist eine Art milder Sozialismus, woraus gemeinhin das Recht abgeleitet wird, Privateigentum zu konfiszieren und zu vergesellschaften. Das führt in Berlin zum Beispiel nun schon seit Jahren zu einem erbitterten Streit darüber, ob das Land berechtigt ist, private Wohnungsunternehmen zu kassieren als Mittel gegen galoppierende Mietpreise. In der Bayerischen Verfassung wird den Bürgern (Artikel 141, Absatz 3) »das Recht auf freien Zugang zu den Naturschönheiten Bayerns« garantiert, wozu nicht nur die Freiheit, auf Berge zu klettern oder in Flüssen zu schwimmen zählt, sondern eben auch der Zugang zu den schönen Seen des Freistaats. Das heißt freilich nicht, dass die Seen an jeder beliebigen Stelle frei zugänglich sein müssen. Am Starnberger See, sozusagen das Pendant des Zürichsees für die Bewohner Münchens, gehören lediglich 24 von 50 Kilometern Ufer der Öffentlichkeit.Während, wie gesagt, in der »liberalen« Schweiz Seen prinzipiell dem Volk gehören, also nicht privatisierbar sind, sind die Gewässer hierzulande genauso eigentumsfähig wie der feste Boden. Das sorgt vor allem in den »neuen« Bundesländern immer wieder für erbitterten Streit, wo etwa in Brandenburg die Treuhand-Nachfolgeunternehmen, um an Geld zu kommen, das DDR-Volkseigentum an den Seen meistbietend an Private (also zum Beispiel Düsseldorfer Millionäre) auf den Markt gebracht haben. Die neuen Eigner waren dann der Meinung, sie könnten Geld von Badeanstalten oder Golfplätzen verlangen, deren Grundstück direkt an »ihren« See grenzt, sofern deren Gäste oder Mitglieder dort zu schwimmen oder Tretbootfahren beabsichtigen.
Der Konflikt zwischen dem Anspruch auf freiem Zugang zu den Highlights von Gottes Schöpfung (vulgo: den Binnengseen) und der marktwirtschaftlichen Garantie des Privateigentums ist wohl nur pragmatisch zu lösen. Wir machen Halbe-Halbe, wie am Starnberger See, hat freilich den Nebeneffekt, dass dies das privatisierbare Ufer ebenfalls halbiert und die Preise hochtreibt. Auch am Zürichsee sind jetzt schon nur 12,6 von insgesamt 50 Kilometer Seeufer in privater Hand. Vom Bellevue in Zürich kann jedermann frei in Richtung Küsnacht joggen oder walken.
Der im vergangenen Jahr verstorbene Schriftsteller Martin Walser verbrachte den größten Teil seines Lebens in einem wunderschönen Haus mit Seezugang am Bodensee. Dort, so erzählte er uns anlässlich eines Interviews, gab es in den wilden siebziger Jahren einmal eine Enteignungsinitiative für einen öffentlichen Seeuferweg. Damals war Walser ein strammer Kommunist und also gegen jegliches Privateigentum. Als Anwohner am See fand er die Initiative dagegen ziemlich doof, die dann aber zu seiner privaten, gewiss nicht ideologischen Zufriedenheit letztendlich keine Mehrheit fand. »Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil«, pflegte Walser zu sagen.
Rainer Hank