Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen21. November 2023
Frau unter MännernWie erzählt man (s)ein Leben?
Seit Ende Oktober hat die IG Metall eine neue Führung: Eine Frau. Sie heißt Christiane Benner, ist 55 Jahre alt. Und »seit 130 Jahren die erste Frau an der Spitze der größten deutschen Gewerkschaft«.
Ich habe mir das Vergnügen gemacht, (fast) alle Porträts zu lesen, die vor und nach dem Wahlgewerkschaftstag der IG Metall über Frau Benner erschienen sind. Warum macht man so etwas? Ein bisschen aus Nostalgie. In den 90er Jahren gehörte die Gewerkschaftsberichterstattung zu meinen journalistischen Pflichten. Die IG Metall war meine Lieblingsgewerkschaft: Klassenkampf mit den Instrumenten der Tarifpolitik – auf diese Weise hatten die Metaller die höchsten Löhne in der deutschen Industrie und die 35–Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt. Es waren starke Männer, die diese Gewerkschaft prägten. Sie heißen Otto Brenner oder Franz Steinkühler. Verdammt lang her.
Nun also Frau Benner. Eine Frau schleift eine der letzten Männerdomänen in der deutschen Wirtschaft. Kein Porträt über die Neue ließ sich diese naheliegende Pointe entgehen, die Klügeren notierten immerhin mit Distanz, dass das auch ein Klischee sein könnte. Das machte mich neugierig: Wie erzählt man ein Leben so, damit es interessant wird? Einfach zu sagen, die Frau hat eine ganz normale Karriere gemacht und es mit Fortüne, Begabung und einer gehörigen Portion Machtwillen in ihrer Organisation nach oben geschafft, wäre mit Sicherheit näher an der Wahrheit. Aber auch ziemlich langweilig. Deshalb müssen gute Geschichten (heute sagt man: Narrative) her: die liefern in der Regel professionelle Erzähler (Pressestellen, PR-Agenturen, Journalisten), die sich orientieren an naheliegenden Konstruktionsschemata darüber, wie das Leben so spielt. Also etwa: »Vom Aufstieg und Fall.« So laufen derzeit die Porträts über den Immobilieninvestor René Benko (hierzulande ergänzt durch den Hinweis, der Mann habe ja nicht mal Abitur. Kein Wunder, kann ja nicht gut gehen!). Oder: »David besiegt Goliath.« (»Wie der unbekannte Elon Musk sich mit der gesamten Autoindustrie anlegt und am Ende selbst ein Goliath wird«).
Christiane Benner, IG Metall
Im Fall von Christiane Benner habe ich zwei Narrative gefunden. Erstens, wie gesagt: Einbruch in die Männerwelt. Zweitens: Aufstieg gegen die Widrigkeiten einer unfairen und ungleichen Gesellschaft.
Beginnen wir mit dem Einbruch in die Männerdomäne. Dazu gehört unbedingt: Die bösen Männer setzen alles daran, der Frau auf dem Weg nach oben Prügel in den Weg zu legen. »Was musste die Frau für Widerstände überwinden, nur weil sie eine Frau ist«, lese ich in der »Süddeutschen Zeitung«. Der Beleg für diese schwere Schicksal: Man habe versucht, sie »wegzuloben« an die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. Donnerwetter! Welch eine Biestigkeit. Das wäre gerade so, als würde man den Aspiranten auf einen Bischofssitz in den Vatikan wegloben und als Papst ins Gespräch bringen.
Sagen wir es so: Es gibt Schlimmeres. DGB-Chefin ist übrigens auch eine Frau geworden. Yasmin Fahimi, heißt sie. Bei ihrer Wahl hieß es natürlich nicht, sie sei aus ihrer Partei, der SPD, an die Spitze des DGB weggelobt worden. Stattdessen bot sich für sie dasselbe Narrative an wie bei Frau Benner: Erste Frau an der Spitze der gewerkschaftlichen Spitzenorganisation. Einbruch in die Männerwelt.
Auf die Idee eines alternativen Narrativs, wonach es selbst bei den Gewerkschaften inzwischen für eine Frau leichter ist ein Spitzenamt zu erringen als für einen Mann, kommt offenbar niemand. Dabei weisen Wahlergebnisse von über 90 Prozent, die man früher »albanisch« nannte, darauf hin, dass die Widerstände der alten weißen Männer sich in Grenzen gehalten haben. Erst recht verglichen mit den erbitterten Schlachten und Intrigen, die sich die Alpha-IG-Metaller früher geliefert haben. Und nur so nebenbei: In der deutschen Metallindustrie und in der IG Metall liegt der Frauenanteil bei knapp 20 Prozent. Machtpolitisch nicht schlecht gemacht, Frau Benner!
Nun zum zweiten Narrativ: Aufstieg einer Frau von ganz unten gegen die Widerstände einer ungleichen und ungerechten Welt. Dafür unterschlägt man besser, dass Benners Vater Ingenieur ist, sie also aus einer Akademikerfamilie stammt. Betont wird stattdessen, dass sie Scheidungskind sei und von der Mutter, Arzthelferin, allein erzogen wurde. Der Vater scheint freilich seinen Unterhaltsverpflichtungen nachgekommen zu sein; zum Beispiel hat er sie als Fünfzehnjährige auf eine Dienstreise nach Amerika mitgenommen. Seis drum. Erzählt wird, dass die Fünfzehnjährige dem Lehrer eine Klassenfahrt nach Norwegen aus finanziellen Gründen absagen musste. Armes Kind, denkt der Leser. Nur im Nebensatz und am Rand erfahren wir später, ein Solidarfonds habe Benner die Teilnahme an der Norwegenfahrt dann doch ermöglicht. Hätte man auch als Lob der Solidargemeinschaft erzählen können, hätte aber das Narrativ der ungerechten Klassengesellschaft gestört.
Klassenkampf oder Aufstiegsversprechen
So geht es weiter. Natürlich stößt das arme Scheidungskind nach dem Abitur auf weitere Aufstiegshürden, wird gezwungen, eine Lehre zur Fremdsprachenkorrespondentin zu machen, einfach weil »null finanzielle Ressourcen dagewesen waren«. Moment, denkt der Leser abermals: Gibt es nicht für einigermaßen begabte oder bedürftige Studenten in diesem Land vielfältige Stipendienangebote? Auch hier folgt die Beruhigung bald: Benner verlässt ihr Unternehmen, studiert Soziologie mit einem Stipendium, geht abermals für längere Zeit in die USA und macht anschließend rasch Karriere bei der IG Metall. Was soll man sagen: Deutschland ist offenbar ein gut funktionierender Sozial- und Solidarstaat, in dem der Bildungsaufstieg für wirklich oder vermeintlich benachteiligte Kinder machbar ist. Schon klar, so eine Erfolgsgeschichte passt nicht zu einer Karriere in einer Gewerkschaft, die das Los der Verelendeten verbessern will.
Es geht mir nicht gegen die Konstruktion von Kontexten zur Strukturierung von Wirklichkeit. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir die Welt nur in Narrativen verstehen. Doch warum sind nur derart stereotype Narrative im Angebot? Eine Frau setzt sich gegen massive Widerstände in der Männerwelt durch. Oder: Eine Frau schafft es nach oben trotz der Widerstände einer ungerechten Klassengesellschaft. Origineller wäre: Als begabte Frau stehen einem derzeit alle Vorstandsetagen offen – in der Wirtschaft, in der Politik, in der Wissenschaften und natürlich auch in den Gewerkschaften. Und: Für begabte und/oder finanziell bedürftiger Menschen bietet der Sozialstaat vielfältige Angebote, Ungleichheiten zu kompensieren. Diese Geschichten wären aus meiner Sicht nicht nur soziologisch näher an der Wahrheit. Sondern auch poetologisch origineller.
Rainer Hank