Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen25. Mai 2020
EU-ImperialismusLeidenschaftliche Europäer können gefährlich sein
Corona-Zeit ist Bildungszeit. Alexander Hamilton jedenfalls kam in unserem Geschichts-Unterricht bei Herrn Maier am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium nicht vor. Doch wer sich ein Urteil bilden will über einige Vorfälle der vergangenen Woche, der sollte sich um Hamilton kümmern. Geht es nach dem Willen von Emmanuel Macron und Angela Merkel, wird die EU sich mit einem 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds verschulden, für den alle Mitgliedstaaten gemeinsam haften. Das nennen einige jetzt – allen voran der deutsche Finanzminister Olaf Scholz – den Hamilton-Moment Europas.
Dieser Alexander Hamilton, einer der Gründerväter Amerikas, war ein famoser Bursche. 1755 als uneheliches Kind von der Tochter eines hugenottischen Auswanderers auf einer Insel in der Karibik geboren, brachte er es mit großer Begabung und ohne je eine öffentliche Schule besucht zu haben zu einem Stipendium am Kings College in New York (der heutigen Columbia Universität). Als Mitglied der Gruppe der Föderalisten war Hamilton Autor der sogenannten »Federalist Papers«, die in der Debatte um die amerikanische Verfassung dafür eintraten, Amerika von einem lockeren Staatenbund in einen starken Bundesstaat mit zentraler Finanzpolitik zu verwandeln. Föderalisten sind in Amerika eigentlich Zentralisten, aus europäischer Sicht eine Quelle permanenter semantischer Missverständnisse.
Als amerikanischer Finanzminister verfügte Hamilton im Jahr 1790, dass der Zentralstaat den amerikanischen Einzelstaaten alle Schulden abnahm, dafür aber auch entsprechende Kompetenzen beanspruchte. Das, so haben wir jetzt also gelernt, war die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Und wenn die 500 Corona-Milliarden von Macron-Merkel unser »Hamilton-Moment« wären, dann erlebten wir jetzt gerade die Geburtsstunde der »Vereinigten Staaten von Europa« (USE). Dass eine Milliardenverschuldung zum Gründungsakt eines geeinten Europas würde, mutet allein schon nicht wirklich verheißungsvoll an.
Merkel unter dem Druck der Europäer
Geschichte muss sich nicht wiederholen. Aber Anreize wirken heute nicht anders als damals. Die Möglichkeit, Geld billig leihen zu können oder – wie jetzt – von Brüssel sogar geschenkt zu bekommen, wirkt verführerisch und regt Fantasien an, gemeinschaftlich verbürgtes Geld munter und ineffizient auszugeben. Politische Aussagen, der Merkel-Macron-Fonds sei ein einmaliger Akt in einer dramatischen Ausnahmesituation, dienen der Beschwichtigung. Katastrophen und Kriege waren häufig Vehikel für wirtschaftliche Paradigmenwechsel. Das kann man in einem schönen Aufsatz des Wirtschaftshistorikers Harold James nachlesen. Seit EU-Gründung sagen uns die Zentralisten, Europa brauche zu seiner Vollendung erst eine Währungsunion, dann eine Fiskalunion. Jetzt haben sie die dafür die Blaupause. Dass die deutsche Kanzlerin nach langem Widerstand weich wurde, ist für Harold James ein Beweis dafür, welchen Druck die Europäer in der Corona-Krise auf sie ausüben.
Vor einer durch Corona getriggerten Fiskalunion, welche die Schwelle vom Staatenbund zum Bundesstaat überschritten hätte, kann man nur warnen: Niemand, der diese Warnung ausspricht, sollte sich als schlechter Europäer beschimpfen lassen. Im Gegenteil: Es ist eine Warnung vor künftigem Hass und Zwietracht, wovon es in Europa seit der Finanz- und Eurokrise ohnehin schon viel zu viel gibt.
Diese Warnung hat nicht nur fiskalische, sondern auch demokratietheoretische Argumente auf ihrer Seite: Denn die demokratische Legitimation der EU ist bis heute sehr schwach, anders als die auf der Souveränität des Volkes beruhende Legitimation der Nationalstaaten. Der einzelne Bürger hat auf die europäische Politik wenig Einfluss, nicht zuletzt deshalb, weil bei den Wahlen zum europäischen Parlament nur nationale Parteien wählbar sind, die sich hinterher zu Fraktionen verbünden, deren Programme völlig intransparent sind. Auf dieses gravierende Demokratiedefizit hat der Rechtsgelehrte und ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm vergangene Woche in der F.A.Z. hingewiesen. Dass Brüssel, nach Kräften unterstützt vom Europäischen Gerichtshof, längst aufgehört hat, sich um seine demokratische Legitimation zu scheren, macht die Sache nur noch schlimmer: Vereinigte Staaten, geschaffen durch die fiskalische Hintertür, wären Nährboden für Populisten aller Länder.
Ist Europa wirklich ein Friedensprojekt?
Es trifft sich, dass dieser Tage im Kösel-Verlag ein schmaler Band des Soziologen Hans Joas erschienen ist unter dem Titel »Friedenprojekt Europa?«. Der Essay sei allen EU-Zentralisten und Hamilton-Freunden zur Lektüre empfohlen. Joas, kein Eiferer, hat schon bei früheren Gelegenheiten vor einer »Selbstsakralisierung« Europas gewarnt: Leidenschaftliche Europäer sind ihm nicht geheuer. Die europäische Idee, so Joas, hat sich immer schon im Spannungsfeld von Föderalismus und Imperialismus entwickelt. Den provokanten Begriff des Imperialismus verwendet der Soziologe neutral: Ein Imperiums kommt heraus, wenn man aus mehreren souveränen Staaten ein transnationales Gebilde schmiedet. Warum ein solcher »postnationaler Imperialismus«, den Joas zufolge auch der Philosoph Jürgen Habermas vertritt, besser sein soll als der gute alte Nationalstaat, leuchtet in der Tat nicht ein: Ein Deutschland-Nationalismus würde lediglich durch einen Europa-Nationalismus ersetzt: »Der normative Bezugspunkt muss für moralische Universalisten, ob für Aufklärer oder Christen oder andere, selbstverständlich jenseits des Nationalstaats, aber eben auch jenseits einer speziellen Föderation von Staaten liegen«, schreibt Joas.
Dass die Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa den liberalen Fortschritt gepachtet hätten, während Freunde nationaler Souveränität hoffnungslose Reaktionäre wären, ist ein Narrativ, das dem Anspruch universaler Moral nicht standhält. Zu Recht erinnert Joas daran, dass die Sakralisierung Europas nicht erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei Politikern wie de Gasperi, Schuman oder Monnet als »Friedensprojekt« in Mode kam, sondern auch die Nationalsozialisten sich in den vierziger Jahren einem »Europa-Rausch« hingegeben hatten, aus dem heraus Hitler »das Gefühl europäischer Solidarität« beschwören konnte. Die Guten haben kein Monopol auf die Idee eines europäischen Imperiums. Die Europa-Idee ist ziemlich robust gegenüber einer Vereinnahmung aus unterschiedlichen ideologischen und politischen Richtungen.
Ob die Völker der EU die Vereinigten Staaten von Europa wollen, wissen wir nicht. Um das herauszufinden müsste man, simple demokratische Regeln befolgend, die Menschen in diesen Staaten befragen – und sie gegebenenfalls darüber abstimmen lassen. Über das Vehikel der finanzpolitischen Vergemeinschaftung in einen imperialen Bundesstaat zu schlittern wäre weder demokratisch noch moralisch in Ordnung. Und es würde das fragile Gleichgewicht von Föderalismus und Imperialismus, welches seit langem zur Konstitution Europas gehört, gewaltig aus dem Lot bringen. Statt Europa zu stabilisieren, wäre eine weitere Erosion zu befürchten. Amerika ist in vielem ein Modell für uns; Alexander Hamiltons Schuldenunion sollte freilich nicht dazu zählen.
Rainer Hank