Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen06. September 2022
EntlasteritisEine neue Seuche grassiert
Mein Finanzamt spendiert mir für September eine Energiepreispauschale von 300 Euro. Das hat mich überrascht, bildete ich mir doch ein, dass es dieses Steuergeschenk nur für Arbeitnehmer gibt. Ist das nicht der Grund, warum Rentner und Studenten sich schwer benachteiligt fühlen und nach Kompensationsgerechtigkeit rufen?
Eine Nachfrage bei meiner stets bestens informierten Steuerberaterin bringt Aufklärung: Die Energiepreispauschale erhalten alle, die ein »aktives« Einkommen beziehen. Das sind nicht nur Arbeiter, Angestellte und Beamte, sondern auch Selbständige, Freiberufler, Landwirte und andere Gewerbetreibende, also auch Kolumnisten. Bloß Rentner, Studenten oder »Rentiers«, die ausschließlich von Vermietungen oder Dividenden leben, kriegen das Geld nicht. Denen kann man nur raten, schnell ein paar Stunden in einer Kneipe zu jobben – Personal wird überall gesucht– oder den Schrebergarten als Landwirtschaftsbetrieb anzumelden: Dann gibt es vom Staat 300 Euro obendrauf. Allerdings muss die Pauschale später wieder versteuert werden. Was am Ende bleibt, wird sich also noch weisen. Richtig effizient klingt das nicht.
Ehrlich gesagt, ich hätte die 300 Euro nicht gebraucht. Auch das 9–Euro-Ticket wäre für mich nicht nötig gewesen: Denn in der Stadt fahre ich ausschließlich mit dem Rad. Und für größere Entfernungen nehme ich den ICE, weil es mir mit den Regionalzügen zu lange dauert. Der Tankrabatt nebst erhöhter Pendlerpauschale wäre für mich ebenso wenig nötig gewesen, weil, wie gesagt, ich Rad- und ICE-Fahrer bin.
Der Staat macht mir derzeit ständig »Geschenke«, um die ich ihn nicht gebeten habe. Das liegt daran, dass seit Inflation, Ukrainekrieg und Energiekrise und nach Corona eine neue Seuche ausgebrochen ist. Ich nenne sie die »Entlasteritis«. Die Deutschen entdecken sich gerade als ein Volk der Mühseligen und Beladenen, die dringend entlastet werden müssen.
Eine neue Unübersichtlichkeit
Dementsprechend ist die Ampel-Regierung jetzt ständig mit Entlastungen beschäftigt, die in immer neuen Paketen unters Volk der Bedürftigen gebracht werden, was – nur am Rande – sprachlich etwas schief ist, weil ein Paket ja eher eine Last ist (das sehen wir an den DHL-Boten).
Dass die vielen Entlastungen eine neue Unübersichtlichkeit zur Folge haben, hat mehrere Gründe. Erstens hat die Ampel kein Konzept, was man ihr nur eingeschränkt zum Vorwurf machen kann, weil Putin seinen Krieg nicht vorher angemeldet hat. Zweitens besteht diese Regierung aus drei sehr unterschiedlichen Parteien, die sehr unterschiedliche Wählergruppen entlasten wollen, um beim nächsten Mal wiedergewählt zu werden. Also Tankrabatt für die FDP-Autofahrer, Energiepauschale für die wackeren SPD-Facharbeiter und 9–Euro-Ticket für die Grünen Umweltaktivisten. Die politische Ökonomie weiß, dass Koalitionen umso spendabler mit dem Geld anderer Leute umgehen, je mehr Koalitionäre es gibt. Und wenn irgendjemand derzeit mahnt, es mit der Entlasteritis nicht zu übertreiben, malen Politiker soziale Unruhen an die Wand. Der nicht entlastete deutsche Bürger würde auf der Stelle zum Revolutionär, hören wir, was insofern komisch ist, weil die Deutschen bislang in ihrer Geschichte nicht gerade als besonders eifrige Revoluzzer aufgefallen sind.
Irgendjemand freilich muss das ganze Geld, das die Entlastungen kosten, am Ende wohl bezahlen. Mir schwant, dass ich da voll mit dabei bin, zumal der Finanzminister ständig und meines Erachtens zu Recht betont, nachfolgende Generationen dürften wegen Grundgesetzverbot nicht mit höheren Schulden belastet werden – auch die verlangen nach Entlastungen. Also trage ich als Radfahrer mein Scherflein bei zu den 14 Milliarden Euro, die das 9–Euro-Ticket kostet und finanziere als Stadtmensch den Landbewohnern ihre aufgestockte Pendlerpauschale. Weil das nicht reichen wird, soll es nach Meinung vieler ans Portemonnaie der Kapitalisten gehen, deren hohe Gewinne vielen ein Dorn im Auge sind. Viel Gewinn nennen wir neuerdings Übergewinn und schöpfen ihn einfach ab. Wo der erlaubte Gewinn aufhört und der Übergewinn anfängt, bestimmt sinnvollerweise der Fiskus nach Maßgabe der Kassenlage. Als Wähler sind die Kapitalisten in ihrer Macht zu vernachlässigen, verglichen etwa mit den Millionen Rentnern.
Die Seuche der Entlasteritis wird Langzeitfolgen haben, fürchte ich. Zunächst: Für Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität ist traditionell die Notenbank und nicht der Finanzminister zuständig. Das gerät immer mehr in Vergessenheit. Die EZB drückt sich und die Politiker springen als Entlaster in die Bresche. Sodann gerät das Steuersystem völlig aus den Fugen, wird willkürlich nach dem Motto, wer am lautesten schreit und mutmaßlich am meisten demokratische Stimmgewalt hat, wird vorzugsweise bedient. Einmal damit angefangen, ergibt sich eine fiskalpolitische Interventionsspirale, die zu keinem Ende kommt, weil immer einer da ist, der sagt »Das reicht noch lange nicht.« So folgt auf das dritte mit böser Sachnotwendigkeit das vierte Entlastungspaket. Am Ende erodiert das Vertrauen in die Regelgebundenheit des Steuersystems.
Vertrauen in die Regelgebundenheit schwindet
Der Inflationsbekämpfung nützt das gar nichts. Denn das Geld vom Staat will ja von den Leuten ausgegeben werden und heizt im schlimmsten Fall die Inflation an. Das Steuersystem verkommt zur willkürlichen Umverteilungsmaschine. Alle Maßstäbe (Äquivalenz als Preise für Staatstätigkeiten, Leistungsfähigkeit als Begründung für Proportion und Progression des Steuertarifs) verludern. Steuersystematisch wäre es nämlich gerade geboten, die sogenannte kalte Progression auszugleichen, die den Staat zum Profiteur der Inflation macht: Dies ist nun gerade keine Entlastung, sondern der Verzicht auf eine zusätzliche Belastung der Steuerbürger, ohne dass sich an ihrer »Leistungsfähigkeit« etwas geändert hätte. Aber eben: Regeln und Logik spielen keine Rolle mehr, wenn sich die Steuergerechtigkeit auf die simple Umverteilungsformel reduziert: Nehmt das Geld den Reichen und verteilt es nach Lust und Willkür irgendwie an alle. Wenn die Wohltaten wenigstens zielgenau und ausschließlich den wirtschaftlich Schwachen zugutekämen, könnte man dies als Gebot der Solidarität rechtfertigen. Aber als Armenhilfe sind die Pakete gerade nicht geschnürt.
»Nichts bedarf größerer Weisheit und Vorsicht als die Festsetzung dessen, was man von den Untertanen nimmt und was man ihnen lässt«, lesen wir bei Montesquieu. Diese Weisheit braucht Maßstäbe und Regeln, um von den Bürgern als gerecht empfunden zu werden, und darf nicht im archaischen Verteilungskampf der Entlasteritis erstickt werden.
Rainer Hank