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  • 19. Januar 2025
    Elon Musk am Apparat

    Elon Musk Foto tesla

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Fehlentscheidungen, Risikoangst und schlechte Gefühle

    Kürzlich traf ich auf Klaus Zellmer (57), den Chef des tschechischen Autobauers Skoda. Am Dillmann-Gymnasium, meiner alten Stuttgarter Schule, sollte ich mit ihm über die (traurige) Lage der deutschen Automobilindustrie (speziell im Raum Stuttgart) sprechen, über die (besorgniserregende) Situation der deutschen Wirtschaft und warum sich das zum VW-Konzern zählende Unternehmen Skoda (nachweislich) besser schlägt als der Rest der Branche.

    Nachdem wir damit durch waren, ging es im letzten Teil des Gesprächs um Ratschläge eines Top-Managers für die jüngere Generation. Ferdinand Piëch, der 2019 verstorbene Patriarch des VW-Porsche-Imperiums hatte uns einmal in einem Interview gesagt, bei ihm könne nur einen Job bekommen, wer schon einmal im Lauf seiner Karriere gescheitert sei; die erlittene Niederlage als Einstellungsbedingung. Damit könne er nicht dienen, sagte Zellmer; Piëch hätte ihn deshalb wohl nicht zu Skoda geholt. »Bisher habe ich immer Glück gehabt«, so Zellmer, der Glück als eine Mischung aus Vorbereitung und Gelegenheit definierte.

    Ich schob die Frage nach, ob es in seiner Laufbahn eine Entscheidung gegeben habe, mit der er hinterher gehadert oder sie gar bereut habe. Zellmer antwortete mit einer Geschichte: Sie beginnt 2017 mit einem Interview fürs amerikanische Morgenfernsehen. Klaus Zellmer, groß geworden in Stuttgart, war damals Nordamerikachef von Porsche und wurde gefragt, ob auch der deutsche Sportwagenhersteller schon Kunden an Tesla verloren habe. Er beantwortet die Frage wahrheitsgemäß mit »Ja«, was man in der Stuttgarter Porsche-Zentrale, vorsichtig gesprochen, wenig amüsiert registrierte.

    Wenig später meldete sich Tesla-Chef Elon Musk persönlich bei Zellmer am Telefon. Er habe das Interview gesehen und möchte ihn treffen. Bei Space X, seiner Weltraumfirma, oder bei sich zuhause? »Zuhause«, sagt Zellmer, »ist doch interessant zu sehen, wie so jemand wohnt«.

    Es fehlt der Mut

    Musk meinte es ernst. Ein Uber-Taxi bringt Zellmer nach Bel Air in Los Angeles. Dem Fahrer im Toyota Hybrid erzählt er stolz, hier wohne Elon Musk. Wenig später muss er eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben; nichts dürfe von dem Treffen bekannt werden. Auch nicht die Adresse des Tesla-Manns. In der Bibliothek warten zwei Wassergläser, aus dem Nebenzimmer dringen Kinderstimmen. 30 Minuten dauert das Gespräch. Musk, damals noch nicht »First Buddy« von Donald Trump, macht ihm ein Angebot, zu Tesla zu wechseln. »Er fand mich cool«; so Zellmer. Näheres müsse man beim nächsten Treffen besprechen.

    »In dem Moment hatte ich nicht genug Mut«, gibt Zellmer zu. Tesla steckte damals in der »Produktionshölle« und war weit von Gewinnen entfernt. Mercedes hatte seine Anteile verkauft (was sie heute noch bedauern). Zellmer geht auf das Angebot Musks nicht ein, wechselt statt nach Palo Alto (Kalifornien) nach Wolfsburg (Niedersachsen) als Vertriebschef von VW und 2022 dann auf den Vorstandsposten von Skoda in Mladá Boleslav (Böhmen). Manchmal denke er: »Vielleicht hätte ich in einem Jahr bei Tesla so viel erlebt wie sonst in einem ganzen Berufsleben nicht.« Und auch die Vergütung in Aktien, die damals üblich war, hätte ihren Reiz gehabt. »Dann wäre ich heute der größte Spender fürs Dillmann-Gymnasium, ohne dass ich es überhaupt merken würde.« Freilich wäre er auch das Risiko eingegangen, nach einem halben Jahr gefeuert zu werden, eine personalpolitische Sprunghaftigkeit, für die Elon Musk bekannt ist.

    Klaus Zellmer wirkt einverstanden mit seiner Karriere; wäre auch nochmal schöner. Ein leichtes Bedauern freilich schwang in seiner Erzählung mit. In der ökonomischen Entscheidungstheorie nimmt das Bedauern (»regret«) eine wichtige Rolle ein. Menschen beziehen bei der Antizipation des Nutzens einer Entscheidung auch die Möglichkeit eines Bedauerns von Entscheidungen mit ein, heißt es im »Psychologielexikon«. Es finde ein Vergleich der Emotionen statt, die bei anderen möglichen Ausgängen von Entscheidungsoptionen eintreten würden. Der Entscheider empfindet nicht nur die mit der Konsequenz seiner Entscheidung assoziierte Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, sondern auch Emotionen, die aus dem Vergleich mit verpassten Konsequenzen resultieren: »Was wäre geschehen, wenn ich mich anders entschieden hätte?« Bedauern wäre dann der Wert der Differenz zwischen der getroffenen Entscheidung und der im Nachhinein als optimal angesehene Entscheidung. Je größer diese Differenz ist, umso mehr schmerzt es.

    Ein Gefühl von Traurigkeit und Enttäuschung

    Die Angst, sich auf etwas einzulassen, und die Angst, etwas zu verpassen, stehen einander gegenüber. Das Gefühl des Bedauerns wird dabei als »ein Gefühl von Traurigkeit und Enttäuschung« definiert. Spielt noch eine moralische Komponente mit hinein, sprich man von »Bereuen«. Allemal werden Kosten und Nutzen gegeneinander aufgewogen. Kalifornische Sonne, eine charismatisch-exzentrische Gründerfigur, exorbitante Einkommensversprechen und die Chance, etwas völlig Neues zu machen treffen auf Sicherheitsbedürfnisse, Selbstzweifel, Karrierepfadabhängigkeiten und womöglich mehr oder weniger konkrete Aufstiegsversprechen im angestammten Unternehmen.
    Interessant beim Bedauern ist nun, dass Risikobereitschaft und Beharrungswünsche nicht gleichmäßig verteilt sind. Die Verhaltensökonomie hat nachgewiesen, dass die Menschen die Angst vor Verlusten höher bewerten als die Gewinnerwartung, wenn sie ein Risiko eingehen. Headhunter wissen, wovon die Rede ist. Oder anders gesagt: Das Leiden im Job muss schon ziemlich groß sein, um den Sprung ins kalte Wasser zu wagen.

    Ein weiteres kommt hinzu: Menschen tendieren dazu, kurzfristige Belohnungen (die nächste Gehaltserhöhung) langfristigen Versprechungen vorzuziehen: So kommt es, dass wir Gelegenheiten (»windows of opportunity«) nicht nutzen, die erst später Früchte zu tragen versprechen. Kurzum: Meistens siegt das Beharrungsvermögen siegt, die Risikofreude hat das Nachsehen.

    Ob sich aus der Theorie des Bedauerns Lehren ziehen lassen? Mein Onkel Hugo hat es nicht hingekriegt. Woche für Woche hat er Lotto gespielt. Nie hat er gewonnen. Jedes Mal seufzte er bedauernd »Wieder nix«. Um gleich darauf mit einem neuen Tippschein zum Kiosk zu laufen. Der Nervenkitzel, dieses Mal werde alles anders und ein großer Gewinn sei gewiss, war offenbar stärker als die Erfahrung, dass sich der Einsatz noch selten gelohnt hat. Das lässt darauf schließen, dass das Bedauern nicht so schmerzhaft gewesen sein muss. Und sich im Lauf der Jahre durch ständige Verlustwiederkehr wohl auch abgenutzt hat. Es gibt offenbar auch ein Gesetz des abnehmenden Bedauerns durch Ritualisierung.

    »Non, je ne regrette rien«. Ich hoffe, viele Leser können sich Édith Piaf am Ende dieses Jahres lauteren Herzens anschließen.

    Rainer Hank