Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 27. Februar 2023
    Ein Lob der Schweiz

    Sind es die Berge, die die Menschen gesund halten? Foto Claudia Beyli/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum die Eidgenossen gesünder und langlebiger sind als wir

    Neulich hatte ich Besuch von einem Freund, den es vor ein paar Jahren beruflich mit seiner Familie in die Schweiz verschlagen hat. Wir sind, um es vorsichtig zu sagen, politisch nicht wirklich auf einer Linie: er ist Antikapitalist, bekennendes Mitglied der Partei »Die Linke« und findet, unser Wirtschaftssystem – schreiend ungleich und ungerecht – sei von innen nicht wirklich reformierbar.

    Mein Freund ist indes alles andere als ein Ideologe, sondern ein hellwacher, witziger Geist, bereit, sich von der Empirie korrigieren zu lassen. Sowas gibt es. Wie zu erwarten, war er vor dem Umzug in die Schweiz der Ansicht, das Gesundheitssystem dort, dem Musterland des Gesundheits-Kapitalismus, könne nichts taugen, müsse die Hölle der Zweiklassenmedizin sein. Umso mehr erstaunte ihn die Wirklichkeit: Als er innerhalb von zwei Tagen einen Termin bei einem Arzt in der Nachbarschaft erhielt, wähnte er noch, der müsse wohl stadtbekannt ein schlechter Arzt sein, wenn es so schnell gehe. Doch er wurde gut behandelt und die Familienangehörigen machten bei anderen Ärzten ähnlich zuvorkommende, positive Erfahrungen. Und, versteht sich, mein Freund ist kein Privatpatient (gibt es in diesem Sinn in der Schweiz gar nicht), er wohnt in einer sozial durchmischten Gegend mit überdurchschnittlichem Migrantenanteil – aber eben hoher Arztdichte.

    Ich will wissen, ob sich die positiven Erfahrungen meines Freundes generalisieren lassen – nicht zuletzt auf dem Hintergrund der schlechteren Erfahrungen hierzulande (von Großbritannien ganz abgesehen) mit langen Wartezeiten. Ein Anruf bei dem Basler Gesundheitsökonomen Stefan Felder liefert ein differenziertes Bild: Nicht alles dort ist Gold, was glänzt – aber vieles eben doch.

    Einheitliche Gesundheitsprämie

    Anders als bei uns wird das Schweizer Gesundheitssystem durch eine einheitliche Gesundheitsprämie finanziert, eine Pauschale, die unabhängig von Einkommen und Vermögen jedermann die gleichen Gesundheitsleistungen garantiert. Es gibt keine staatlichen Krankenkassen, sondern 57 private Versicherungen, zwischen denen die Bürger wählen können. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren gesunken. Die Versicherungen dürfen die Menschen nicht abweisen, um nur »gute Risiken« aufznehmen (Kontrahierungszwang). Im Wettbewerb können die Versicherten sich für sogenannte »Managed-Care«-Programme entscheiden, welches die freie Arztwahl einschränkt und dafür die Prämien senkt.

    Dieses System einer obligatorischen Privatversicherung hat die Schweiz in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführt. Es gilt als »solidarisch«, weil jeder zu gleichen Preisen die gleichen Leistungen erhält. Für ärmere Menschen gibt es einen Zuschuss vom Staat, der verhindern soll, dass der Beitrag auf über zehn Prozent des Einkommens steigt. Ein Selbstbehalt appelliert an eine gewisse Eigenverantwortung. Dieses System – die Älteren erinnern sich – wurde auch bei uns vor rund zwanzig Jahren unter dem polemischen Begriff »Kopfpauschale« (klang wie Kopfprämie) diskutiert – und verworfen. Einer der am Ende siegreichen Opponenten damals war der heutige SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

    Wie schlägt sich nun das Schweizer Modell insgesamt? Kriegt man dort nicht nur rasch einen Arzttermin, sondern sind die Menschen womöglich auch insgesamt gesünder und langlebiger? Dazu habe ich mir die neueste Gesundheitsstudie der OECD (»Health Care at a Glance«) aus dem Jahr 2021 angeschaut. Eines haben Deutschland und die Schweiz gemein: Beide Länder leisten sich die teuersten Gesundheitssysteme weltweit, übertroffen bloß von den USA. Jeden Bürger in der Schweiz kostet das Gesundheitssystem 6700 Dollar im Jahr, in Deutschland sind es 6518 Dollar. Im OECD-Durchschnitt sind es lediglich 4000 Dollar.

    Und was kriegen die Bürger für ihr Geld? Da, so muss man es leider sagen, schneiden wir deutlich schlechter ab als die Eigenossen. Nehmen wir nur die Lebenserwartung des Geburtsjahrgangs 2019. Da liegt Japan mit 84,4 Jahren siegreich (und erwartbar) auf Platz Eins. Aber schon auf Platz zwei rangiert die Schweiz (84 Jahre), gefolgt von Spanien und Italien (was uns ebenfalls weniger überrascht: Sonne, Siesta und Olivenöl. Weit abgeschlagen landet Deutschland mit einer Lebenserwartung von 81,4 Jahren auf Platz 25, das ist nur knapp über dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren und nur kurz vor Costa Rica (nichts gegen Costa Rica, da war ich vor Kurzem).

    Nehmen wir als weiteres Beispiel das Risiko, an Krebs zu sterben. Da kommen in Deutschland auf 100 000 Menschen 192 Krebstote. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 191. In der Schweiz ist das Risiko deutlich geringer: An Krebs sterben 167 Menschen bezogen auf 100 0000 Bürger.

    Vermeidbare Sterblichkeit

    Schließlich ein letzter, wie Gesundheitsökonomen sagen, besonders wichtiger Bereich: Was bringt die Prävention schwerer und häufig tödlich endender Krankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Krebs)? Im Fachjargon ist von durch rechtzeitige Behandlung »vermeidbare Sterblichkeit« die Rede (»preventable and treatable causes of mortality«), was nichts an der Tatsache ändert, dass wir alle sterben müssen. Hier hält die Schweiz seit langem den ersten Platz (auch wenn ein paar statistische Effekte womöglich das Bild schönen). Die klügere Gesundheitsprävention führt dazu, dass »nur« 39 behandelbare Krankheitsfälle trotz Vorsorge tödlich enden (wieder bezogen auf 100 000 Bürger), während es hierzulande 62 sind. Es sind solche einprägsamen Zahlen, die dazu führen, dass auch andere vergleichende Gesundheitsstudien der Schweiz ein gutes Zeugnis ausstellen. So kann man in den eher »linken« »Mirror-Mirror-Studien« der amerikanischen Commonwealth-Foundation nachlesen, dass die Schweiz (zusammen mit Norwegen und Australien) die »vermeidbare Sterblichkeit« durch gute Gesundheitspolitik in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent zu reduzieren vermochte.

    Fassen wir zusammen: Dass es sich in der Schweiz deutlich gesünder lebt als hierzulande, liegt nicht am Geld. Die Ausgaben sind (fast) gleich hoch, die Leistungen erheblich besser. Die guten Ergebnisse sind sicher nur teilweise auf die klügere Finanzierung mittels Kopfpauschalen zurückzuführen. Der Hauptgrund ist eine höhere Effizienz des Systems: weniger Verschwendung, weniger Fehlanreize für Ärzte und Kliniken und die Konzentration auf Vermeidung schwerer und häufiger Krankheiten. Nicht mehr Geld ausgeben, sondern klüger Geld auszugeben, heißt die erste Lehre des Vergleichs. Und die zweite Lehre heißt: Medizin und Ökonomie gegeneinander auszuspielen, wie es derzeit bei Karl Lauterbach & Co. groß in Mode ist, macht die Medizin schlechter und das System teurer.

    Rainer Hank